In Afghanistan setzt der Präsident nach und nach die Scharia wieder in Kraft

Washington/Kabul. Die "engen Bande" zwischen dem Westen und seinem Land beschwor der afghanische Präsident Hamid Karsai dieser Tage häufig: Zuerst in Washington als Gast von US-Präsident Barack Obama und anschließend in London als erster internationaler Besucher des neuen Premierministers David Cameron. Zur gleichen Zeit führen Behörden daheim mit dem Segen des frommen Karsai einen Feldzug für die Wiederherstellung islamischer Werte und gegen "westliche Dekadenz".

Der Alkohol ist ins Visier der Sittenwächter der Islamischen Republik Afghanistan geraten. In den vergangenen Wochen gab es verstärkt Razzien gegen Restaurants und Klubs in der Hauptstadt Kabul, in denen ausländische Diplomaten und Wiederaufbauhelfer Wein, Bier und härtere Drinks genießen. Kellnerinnen wurden auf Polizeiwachen entwürdigenden "Untersuchungen" ausgesetzt. Offiziell sollte festgestellt werden, ob sie sich prostituierten. Tatsächlich verfolgen die Schikanen, bei denen sich die Frauen nach ihren Aussagen vor angeblichen Ärzten entkleiden mussten, offenkundig nur den Zweck, die Gastronomen einzuschüchtern.

Bereits im November vergangenen Jahres wurden in der Stadt Kundus etwa 7000 ungeöffnete Flaschen mit alkoholischen Getränken und zudem etwa ein Kilo Heroin ins Feuer geworfen und zerstört. Der örtliche Polizeichef, Brigadegeneral Abdul Razzaq Yaqubi, sagte, 19 Personen seien wegen des Besitzes oder Transports des Alkohols oder der Drogen verhaftet worden.

Ungeachtet des religiösen Alkoholbanns gibt es Orte moderner Weltlichkeit in Afghanistan. In Kundus hielt das Hotel Lapis Lazuli deutsches Bier vom Fass bereit. Allerdings wurde der Ausschank inzwischen gestoppt. Das Nachtleben von Kabul galt bislang als vergleichsweise glamourös. Jetzt aber musste auch der In-Klub L'Atmosphere eine zermürbende Razzia über sich ergehen lassen.

Auch jene Markthändler, die unter der Ladentheke Gin, Wodka, Whiskey oder Bier bereithalten, müssen um ihre Existenz fürchten. Bereits im vergangenen Juni verabschiedete das afghanische Parlament ein strenges Gesetz. Es droht in Übereinstimmung mit der Scharia jedermann Geldstrafe, Gefängnis oder 60 Peitschenhieben an, der Alkohol verkauft, kauft oder konsumiert. Im Fernsehen werden Telefonnummern eingeblendet, unter denen man Verkäufer oder Konsumenten von Alkohol anschwärzen kann.

Die Kabuler Offensive gegen Promille mag mit Karsais Wunsch nach einer nationalen Aussöhnung zusammenhängen. Der Präsident, der selbst nicht trinkt, will den Anführern des radikalislamischen Aufstands freies Geleit ins Exil anbieten und so Frieden in seinem Land schaffen. Bedingung sei, dass die Anführer ihre Verbindungen zum Terrornetz al-Qaida kappten, berichtet der "Spiegel". Ein entsprechendes 36-Seiten-Papier habe Karsai vergangene Woche Präsident Obama präsentiert.