Im Kampf gegen die Hamas schickt Israel zum ersten Mal seit 2009 wieder Bodentruppen in den Gazastreifen. Auf beiden Seiten der Grenze leiden die Menschen.

Als der Krieg über Gaza hereinbrach, saßen Chalil al-Nadi und seine Familie zusammengekauert in ihrer kleinen Wohnung in einem fünfstöckigen Wohnhaus. Kerzen spendeten das einzige Licht – der Strom war schon lange ausgefallen. Aus dem alten Transistorradio krächzten die aufgeregten Stimmen der Nachrichtensprecher der verschiedenen palästinensischen Sender. „Über uns hörten wir das Donnern der israelischen Kampfjets, das Summen der Drohnen, die Explosionen der Granaten“, erzählt der 52-jährige Familienvater. „Während um uns der Kampflärm dröhnte, hörten wir im Radio immer neue Nachrichten von getöteten Zivilisten. Was für ein elendes Leben!“

Auch am Morgen danach wagte sich kaum jemand auf die Straße. Lediglich Krankenwagen rasten gelegentlich mit Sirenengeheul durch die 600.000-Einwohner-Stadt. Israel hatte in der Nacht zu Freitag seine Bodenoffensive mit Panzern gestartet.

„Die letzten drei Tage hindurch bekam ich über mein Mobiltelefon automatisierte Anrufe von den Israelis, meine Wohnung zu verlassen“, erzählt Mohammed al-Fajumi, ein Vater von acht Kindern. „Bislang habe ich es ignoriert, aber was letzte Nacht abging, war der reine Wahnsinn. Die Artilleriegranaten explodierten ganz nah an unserem Haus.“ Hunderte Menschen flohen noch in derselben Nacht aus dem Viertel Saitun. Fajum und seine Familie fanden bei seiner Schwester im Stadtteil Rimal Unterschlupf.

Es ist das erste Mal seit mehr als fünf Jahren, dass wieder israelische Panzer in größerer Zahl in das Palästinensergebiet vorstoßen. Für Israels Militär werde es das „Tor zur Hölle“ werden, drohte die dort herrschende Hamas. „Wir werden Gaza zum Friedhof für israelische Soldaten machen“, kündigte ein Hamas-Sprecher nach Beginn der Bodenoffensive an.

Israel betont, es plane nur einen begrenzten Einsatz seiner Bodentruppen in dem 2005 geräumten Gebiet. Eine dauerhafte Wiedereroberung des Gazastreifens strebe man keinesfalls an. Gleichzeitig hat das Militär 70.000 Soldaten mobilisiert. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu drohte am Freitag mit einer „ernsthaften Ausweitung der Bodenaktivitäten“.

Seit Israel am 8. Juli mit Luftangriffen auf den Gazastreifen begonnen hatte, wurden bis Freitagabend mindestens 274 Menschen getötet und 2050 verletzt. Unter den Opfern sind zahlreiche Frauen und Kinder. Auf israelischer Seite kam ein Soldat bei dem Bodeneinsatz ums Leben. Zuvor war ein israelischer Zivilist durch palästinensischen Beschuss getötet worden.

Israel begründet sein harsches Vorgehen mit der Notwendigkeit, seine eigenen Zivilisten zu schützen. Diese sind nämlich dem Raketen- und Mörserbeschuss militanter Palästinensergruppen ausgesetzt. Das zu unterbinden, war in zehn Tagen massiver Bombardements aus der Luft nicht gelungen. Jeden Tag heulten weiter landesweit die Alarmsirenen, auch über Tel Aviv wurden bis zu dreimal täglich Geschosse aus Gaza abgefangen.

Das zweite Ziel der Bodenoffensive ist die Zerstörung eines möglichst großen Teils Hunderter unterirdischer Tunnel der Hamas. Gerade die Tunnel an der Grenze zu Israel, die unter anderem Terrorzwecken dienen, seien eine „riesige Bedrohung“, erklärte der israelische General Gad Schamni, früherer Kommandant der Gaza-Division.

Als Auslöser der Bodenoffensive gilt ein versuchter Anschlag von 13 schwerbewaffneten Palästinensern, die in der Nacht zu Donnerstag durch einen Tunnel vom Süden des Gazastreifens auf israelisches Gebiet gelangt waren. Das Kommando wurde mithilfe von Überwachungskameras entdeckt und von der Luftwaffe angegriffen. „Wenn sie Erfolg gehabt hätten, wären sie womöglich in nahe liegende Ortschaften vorgedrungen und hätten dort Israelis entführt, vielleicht auch Soldaten“, sagte Schamni.

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In Ein Haschloscha, einem Kibbutz in nur 2,5 Kilometern Entfernung von der Gazagrenze, klafft im Dach des Hauses einer 84-jährigen Frau ein großes Loch. Unter einer Staubschicht liegt, in zersprungenem Rahmen, ihr Foto. Weiße Asche bedeckte den Boden. Der alten Dame blieb der Anblick erspart. Als das Geschoss aus dem Gazastreifen am Donnerstagabend einschlug, war sie von ihren Angehörigen ins Landesinnere gebracht worden.

Der Kibbutznik Dany Cohen steht in den Trümmern und redet sich in Rage. „Wer kann von uns erwarten, dass wir so leben?“, fragt er. Selbst in Friedenszeiten hagelten Raketen auf die Region, erzählt er, in den vergangenen Tagen seien es Dutzende gewesen. Der Ort lebt von der Landwirtschaft: Die Bewohner des Kibbutz bauen Tomaten, Paprika und Avocados an. Doch das sei seit Beginn der Operation nicht mehr möglich – zu groß die Gefahr, von einem Geschoss getroffen zu werden.

Neuerdings fürchten sich die Menschen in Ein Haschloscha nicht mehr nur vor Raketen und Mörsern. Seit am Donnerstag die erwähnten 13 militanten Palästinenser durch einen Tunnel brachen, ist dies Dany Cohens größte Sorge. „Vor Raketen kann ich mich schützen, wenn ich alle Anweisungen befolge“, sagt Cohen. „Aber jetzt müssen wir Angst haben, dass plötzlich Terroristen aus dem Nichts auftauchen.“

Aus diesen Gründen befürworten die meisten Israelis die Bodenoffensive in Gaza. „Die Armee hätte schon viel früher reingehen sollen“, sagt Cohen.

International sind die Reaktionen auf die Bodenoffensive sehr unterschiedlich. Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon mahnte, Israel müsse noch „weit mehr tun, um zivile Opfer zu vermeiden“. US-Präsident Barack Obama hat sich nach Beginn der israelischen Bodenoffensive im Gazastreifen demonstrativ hinter die Regierung in Jerusalem gestellt. In einem Telefonat mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu habe er seine „Unterstützung für Israels Recht, sich selbst zu verteidigen“, betont, sagte Obama im Weißen Haus. Keine Nation müsse es hinnehmen, dass sie mit Raketen beschossen werde und Terroristen unter ihrem Territorium Tunnel bauten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hob das Recht Israels auf Selbstverteidigung hervor. Die jüngsten Ereignisse hätten gezeigt, dass die Hamas über „eine völlig neue Qualität der Bewaffnung“ verfüge, sagte Merkel. „Jedes Land muss sich, wenn es so angegriffen wird, auch wehren.“ Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier erklärte, es müsse „alles getan werden, weitere Opfer unter Zivilisten zu vermeiden“.

Auch Palästinenserpräsident Mahmud Abbas forderte bei einem Besuch in der Türkei, auch die Palästinenser müssten die Waffenruhe annehmen, um Israel so unter Druck zu setzen. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan warf Israel vor, einen „Völkermord“ zu verüben.