Nach der Volksabstimmung „Gegen Masseneinwanderung“ drohen weitreichende Folgen in den Beziehungen zu Europa

Brüssel. Das mit 50,3 Prozent knappe Votum der Schweizer am Sonntag, die Zuwanderung in ihrem Land zu begrenzen, hat weitreichende Folgen für die Beziehungen mit den anderen Staaten Europas. Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Was haben die Schweizer bei der Volksabstimmung beschlossen?

Die jährliche Einwanderung soll beschränkt werden durch Kontingente, die noch festzulegen sind. Das betrifft nicht nur Drittstaatenangehörige, sondern auch EU-Bürger. Vor allem Italiener, gefolgt von Deutschen und Portugiesen, arbeiten in der Schweiz. Es wurde auch beschlossen, dass Schweizer bei der Vergabe von Arbeitsplätzen künftig Vorrang erhalten sollen. Die Vorgaben müssen innerhalb von drei Jahren umgesetzt werden.

Wie viele Ausländer leben in der Schweiz?

Die Schweiz hat acht Millionen Einwohner, jeder Vierte von ihnen ist Ausländer – der Ausländeranteil ist damit fast dreimal so hoch wie in Deutschland. Allein im vergangenen Jahr kamen 80.000 Ausländer in die Schweiz, 70 Prozent stammten aus der EU. Im Jahr 2013 lebten 284.000 Deutsche in der Schweiz.

Wird die Schweiz jetzt wieder Grenzkontrollen einführen?

Das ist nicht sicher, aber ganz und gar nicht ausgeschlossen. Der Schweizer Bundesrat hat in einer Botschaft vor der Abstimmung darauf hingewiesen, dass die Kontingentierung von Ausländern letztlich auch das Schengener-Abkommen zur Freizügigkeit und das sogenannte Dublin-Abkommen für Asylfragen gefährden könnte. Formal werden diese Abkommen von dem Volksentscheid zwar nicht berührt, inhaltlich basieren sie aber auf einer ähnlichen Grundlage.

Sind die Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz nun zerrüttet?

Nein. Beide Seiten bemühen sich, die neu entstandenen Probleme durch Erklärungen nicht weiter anzuheizen. Allerdings ist man hinter den Kulissen in Brüssel empört über die Entscheidung der Schweizer. „Der Binnenmarkt ist kein Schweizer Käse. Man kann keinen Binnenmarkt mit Löchern darin haben“, sagte die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Justizkommissarin Viviane Reding. Theoretisch haben EU und Schweiz jetzt drei Jahre Zeit, darüber zu verhandeln, wie es weitergehen soll. Es wird von beiden Seiten keine Schnellschüsse geben, alles läuft jetzt erst einmal so weiter, wie es ist.

Welche Abkommen zwischen der EU und der Schweiz sind durch den Volksentscheid betroffen?

Vor allem das Freizügigkeitsabkommen (FZA) zwischen der EU und der Schweiz, das am 21. Juni 1999 unterzeichnet wurde. Es bindet beide Seiten sehr stark aneinander. Das Abkommen regelt die Personenfreizügigkeit zwischen der EU und der Schweiz und erlaubt einer unbegrenzten Zahl von EU-Bürgern, unter bestimmten Voraussetzungen in der Schweiz zu leben und zu arbeiten – umgekehrt gilt dies auch für Schweizer. Eine Kontingentierung der Einwanderung wäre ein klarer Verstoß gegen das FZA, weil sie die Freizügigkeit von EU-Bürgern massiv beschneiden würde. Ergänzt wird dieses Freizügigkeitsrecht übrigens durch die gegenseitige Anerkennung von Berufsdiplomen, das Recht auf Immobilienerwerb und die Koordination der Sozialversicherungssysteme.

Schadet das Abstimmungsergebnis der Schweizer Wirtschaft?

Ja. Wie stark, ist aber noch nicht abzusehen. Der Schaden kann aber immens sein und das Schweizer Wirtschaftswachstum stark beeinträchtigen. Denn das Freizügigkeitsabkommen ist Teil eines Pakets von sieben Abkommen (Bilaterale Verträge I), in denen neben der Freizügigkeit auch der Luftverkehr, der Landverkehr, die Beseitigung technischer Handelshemmnisse, die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit oder der Handel mit Landwirtschaftsprodukten geregelt ist. Aufgrund einer sogenannten Guillotine-Klausel würden nach einer Kündigung des FZA auch alle anderen Abkommen sechs Monate später automatisch außer Kraft gesetzt. Dies würde nicht nur Schweizer Käseproduzenten hart treffen, sondern alle Schweizer Exporteure, deren Produkte bisher problemlos in der EU zugelassen werden. Zudem ist die Schweiz in hohem Maße auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen. Vier von zehn Assistenz- oder Oberarztstellen sind derzeit allein von Deutschen besetzt. In einer neuen Umfrage gaben zwei von drei Unternehmen in der Schweiz an, Probleme bei der Suche nach leitenden Angestellten zu haben.

Wie geht es jetzt weiter?

Das ist noch völlig unklar. Alle Seiten wurden von dem Votum überrascht. Es gibt jetzt drei Möglichkeiten. Erstens: Die Schweiz verhandelt das Freizügigkeitsabkommen mit der EU neu. Zweitens: Die Schweiz ändert einseitig die Regeln und führt Kontingente ein, kündigt aber das Abkommen mit der EU nicht. Drittens: Die EU kündigt das Abkommen oder setzt es aus.

Wird die EU bereit sein, die Personenfreizügigkeit neu zu verhandeln?

Darauf setzen die Befürworter des Volksentscheids. Aber Brüssel wird das nicht machen, dieses Szenario ist unrealistisch. Für die EU ist das Ergebnis des Volksentscheids ein klarer Verstoß gegen die Freizügigkeit, die zu den wichtigsten Pfeilern des Binnenmarktes gehört. „Die Idee, die Personenfreizügigkeit neu zu verhandeln, ist vom Tisch“, sagte der EU-Botschafter in der Schweiz, Richard Jones.

Kündigt Brüssel jetzt das Freizügigkeitsabkommen?

Die EU-Kommission wird jetzt erst einmal abwarten. Solange Bern die Einwanderung nicht beschränkt, gibt es für sie keinen Grund zu handeln. Führt die Schweiz aber Kontingente für Ausländer ein und kündigt das Abkommen nicht von sich aus, wird die EU handeln. Sie kann das Abkommen dann kündigen oder suspendieren, bei einer Kündigung müssten alle 28 Mitgliedsländer zustimmen, bei einer Suspendierung wäre nur eine qualifizierte Mehrheit nötig.

Gibt es noch Spielraum für einen Kompromiss?

Die EU ist meisterhaft darin, Kompromisse zu finden. Auch dieses Mal wäre das möglich. So könnte die EU theoretisch bereit sein, die neuen Schweizer Kontingente hinzunehmen – aber nur dann, wenn diese so großzügig bemessen sind, dass sie die Personenfreizügigkeit faktisch nicht beeinträchtigen.

Hat die Schweiz schon Kontingente für Ausländer?

Ja. Im FZA gibt es eine sogenannte Ventilklausel, die das erlaubt. Nach einem Beschluss des Bundesrates existieren seit dem 1. Mai 2013 Kontingentierungen, aber nur für ein Jahr. Davon betroffen sind außerdem nur die „B-Bewilligungen“, also Aufenthaltsbewilligungen von fünf Jahren Dauer.