In der EU gibt es nach dem Volksbegehren der Eidgenossen bereits Überlegungen für eine Revanche. Wegen des Schweizer Sonderwegs hat auch eine Talkshow ihr Programm geändert.

Bern/Berlin. Selten hat man die vereinigten Bürger der Europäischen Union und ihre höchsten Repräsentanten in Brüssel so wütend gesehen. Aber sie sind auch ratlos. Denn das Referendum der Schweizer Bürger gegen „Masseneinwanderung“ gilt. Es hat allerdings in in Brüssel und anderen Hauptstädten der EU für gewaltige politische Erschütterungen gesorgt.

Die Entscheidung werfe eine Reihe politischer und juristischer Probleme auf, sagte die Sprecherin der EU-Kommission, Pia Ahrenkilde, am Montag in Brüssel. Die deutsche Bundesregierung verwies auf die Grundprinzipien der Europäischen Union, die die Schweiz bisher teile: Die Personenfreizügigkeit sowie der freie Verkehr von Dienstleistungen, Waren und Kapital hingen zusammen, unterstrich Regierungssprecher Steffen Seibert im Auftrag von Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Die Schweizer hatten am Sonntag mit einem hauchdünnen Vorsprung für die Initiative zur Begrenzung der Zuwanderung gestimmt. Nach dem angenommenen Text muss der Alpenstaat mit der EU über die Einführung von Obergrenzen und Kontingenten für Migranten aus Deutschland und anderen EU-Ländern verhandeln. Mit Ja votierten 50,34 Prozent der Stimmbürger, 49,66 Prozent sagten nein.

Die Schweiz hat laut Abstimmergebnis drei Jahre Zeit, um mit der EU das Abkommen zum freien Personenverkehr neu auszuhandeln. Der Bundesrat habe dazu von der Bevölkerung einen „klaren Auftrag erhalten“, betonte der Vorsitzende der Schweizerischen Volkspartei, Toni Brunner. Dass Bern sich auf zähe Gespräche einstellen kann, machte EU-Sprecherin Ahrenkilde am Montag klar: „Die Bewegungsfreiheit für Personen ist eine heilige Freiheit für die EU. Sie ist eine der vier Grundfreiheiten, die wir verteidigen.“

Lesen Sie hier den Hintergrund von Abendblatt-Chefautor Thomas Frankenfeld

Sogar den Talkshow-Zirkus hat das ernste Thema erreicht. An diesem Montagaend (ab 21 Uhr in der ARD) spricht Frank Plasberg bei „hart aber fair“ über „Die Schweiz stoppt Zuwanderer – Alarmsignal für Europa?“ mit seinen Gäste: Ralf Stegner (SPD), Roger Köppel (Chefredakteur der „Weltwoche“), Prof. Bernd Lucke (Mitgründer der „Alternative für Deutschland“), Christine Haderthauer (CSU), Michael Hüther (Wirtschaftswissenschaftler am IW) und Rolf-Dieter Krause (Leiter des ARD-Studios Brüssel).

Plasberg bringt‘s mal wieder auf die knappe Frage: „Spinnen die Schweizer?“

Nach Ansicht Brüssels und Berlins steht die Schweiz in der Bringschuld zu erläutern, welche Konsequenzen sie genau aus dem Stimmergebnis ziehen wolle. Einige Folgen sind unmittelbar zu erwarten. So haben die EU und die Schweiz wichtige neue Abkommen in verschiedenen Politikfeldern in Planung, die nach Einschätzung von Beobachtern in Brüssel nun erst einmal auf Eis gelegt werden könnten. Es geht etwa um den Strommarkt, die Zinsbesteuerung und die Forschungsförderung.

Auch am Rande des EU-Außenministertreffens in Brüssel war das Schweizer Referendum Gesprächsstoff. Während der deutsche Ressortchef Frank-Walter Steinmeier (SPD) vor „Rosinenpickerei“ warnte, sagte der britische Außenminister William Hague, es komme nun auf weitere Schritte der Schweiz an. „Wir werden ein Augenmerk auf die 40.000 britischen Staatsbürger legen, die in der Schweiz arbeiten“, unterstrich Hague.

Die britische Regierung unter Premierminister David Cameron hatte in den letzten Monaten selbst mit Gedankenspielen über Zuwanderer-Quoten von sich reden gemacht. Frankreichs Außenminister Laurent Fabius kündigte an, die Beziehungen zur Schweiz zu überdenken.

EU-Parlamentarier aller großen Fraktionen betonten, dass die Schweiz sich aus den europäischen Grundideen nicht einfach die ihr genehmen Teile aussuchen könne. „Die Personenfreizügigkeit und der Zugang zum europäischen Binnenmarkt sind zwei Seiten derselben Medaille“, unterstrich etwa der Industriepolitiker Herbert Reul (CDU). „Die EU muss sehr klar sein: es gibt keine Freiheit des Waren- und Kapitalverkehrs ohne Freiheit des Personenverkehrs“, hob der Grünen-Parlamentarier Daniel Cohn-Bendit hervor. „Gibt es Quoten für Menschen muss es auch Quoten für die Geschäfte der Schweizer Banken und die Exporte der Schweizer Wirtschaft geben.“

Die Organisation „Pro Asyl“ bezeichnete die Schweizer Volksabstimmung als fatales Signal für den Flüchtlingsschutz in Europa. Die vorgesehenen Höchstzahlen für Zuwanderer schlössen Asylsuchende ein, erläuterte die Organisation am Montag in Frankfurt. Dies wäre mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar.

Auch die Begrenzung des Familiennachzugs kollidiere mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, die das Recht auf Familieneinheit schütze.

Auch bei internationalen Organisationen in der Schweiz löste das Ja zu der Initiative große Beunruhigung aus. Es handele sich um ein sehr „irritierendes Signal“, erklärte der Lutherische Weltbund gegenüber dem epd in Genf. Der LWB werde umgehend mit den Behörden in Genf die neue Lage erörtern. Die Vereinten Nationen und andere internationale Organisationen in der Schweiz beschäftigen Zehntausende Nichtschweizer.