Sonntag stimmen Bewohner des Nachbarlandes über eine Initiative gegen die mit der EU vereinbarte Freizügigkeit ab. Viele Deutsche betroffen

Langenthal. Nach seiner Ausbildung zum operationstechnischen Assistenten stand für Timo Thimm fest, dass er raus wollte, nicht nur aus Siegen, auch aus Deutschland. Er entschied sich für die Schweiz. Auf Aufforderung eines Stellenvermittlers machte er eine kleine Reise durch das Alpenland, besuchte ein paar Krankenhäuser – und landete schließlich in der Klinik von Langenthal bei Bern, wo er mit der Zeit zum Leiter des Operationszentrums aufstieg.

Inzwischen lebt er schon so lange hier, dass er Feststellungen mit „oder“ beendet, wie es die Schweizer gern tun: fast zehn Jahre. Thimm ist einer von knapp 300.000 Deutschen, einer von 1,25 Millionen EU-Bürgern und einer von 1,88 Millionen Ausländern, die in der Schweiz leben. Damit hat fast jeder vierte Einwohner des Acht-Millionen-Landes keinen Schweizer Pass. Seit der vollständigen Einführung der Personenfreizügigkeit mit der EU 2007 kamen jedes Jahr 60.000 bis 90.000 dazu.

Regierung, Parlament, Gewerkschaften und Wirtschaft sind gegen die Initiative

Die Schweizerische Volkspartei (SVP) findet, dass das zu viele sind. Die Rechtskonservativen machen die Ausländer für so ziemlich alle tatsächlichen oder vermeintlichen Probleme in der Schweiz verantwortlich. In einem „Extrablatt“ zur Zuwanderung, das sie Anfang des Jahres an alle Haushalte verschickt haben, zählen sie neben SVP-Klassikern wie steigender Kriminalität und Asylmissbrauch auch Dinge auf, über die selbst Menschen klagen, die der Partei kritisch gegenüberstehen: volle Züge und Autobahnen, steigende Mieten und Grundstückspreise, Druck auf Löhne und Sozialsysteme sowie das Zubetonieren der Natur.

Die SVP will die Zuwanderung nun wieder beschränken, obwohl das einen Bruch des Freizügigkeitsabkommen mit der EU bedeuten würde. Diese Kennzahlen sollen jedes Jahr „unter Berücksichtigung eines Vorranges für Schweizerinnen und Schweizer“ festgelegt werden und auch für Asylsuchende und Grenzgänger gelten. Am Sonntag stimmen die Eidgenossen über die Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“ ab. Neben Regierung und Parlament bekämpfen auch die Gewerkschaften und die wichtigsten Wirtschaftsverbände die Initiative. Die Rückkehr zu Kontingenten würde den Fachkräftemangel verschärfen, den Bürokratieaufwand erhöhen und das Wirtschaftswachstum gefährden, warnen sie. Zudem gefährde eine Annahme der Vorlage die Beziehung zur EU.

Die SVP begann den Abstimmungskampf für ihre Verhältnisse fast bedächtig. Ihr prominentester Vertreter, der umstrittene ehemalige Justizminister Christoph Blocher, hielt sich im Hintergrund, für ihre Plakate wählte die Partei ein Symbol ihrer Gegner: einen reiche Früchte tragenden Apfelbaum (dessen Wurzeln die Schweiz zerbrechen). Viele Beobachter werteten das als Versuch, Zuwanderungsskeptiker aus links oder ökologisch orientierten Kreisen ins Boot zu holen – schließlich hatten die zuvor dafür gesorgt, dass die Schweizer in näherer Zukunft über noch einschneidendere Zuwanderungsbeschränkungen abstimmen werden.

Beobachter erwarten am Sonntag ein Kopf-an-Kopf-Rennen

Erste Umfragen sprachen jedoch dafür, dass diese Strategie nicht aufgegangen ist. Der Leiter des Berner Meinungsforschungsinstituts GfS, Claude Longchamp, macht dafür einen „Anti-SVP-Reflex“ verantwortlich. Die SVP habe daraufhin wieder den Ton verschärft. In Zeitungsanzeigen fragte die SVP neben einem Bild einer voll verschleierten Frau: „Bald eine Million Muslime?“ Das habe zu einer Mobilisierung von Kern- und Protestwählern beigetragen, die aus der Abstimmung am Sonntag ein Kopf-an-Kopf-Rennen machen könnte: In der letzten GfS-Umfrage stieg der Anteil der Befürworter um sechs Prozentpunkte auf 43, der Anteil der Gegner fiel auf 50 Prozent.

Die Deutschen spielten jahrelang eine zentrale Rolle in der Schweizer Zuwanderungsdebatte, da mit ihnen erstmals auch Hochqualifizierte in großer Zahl kamen. Sie machten den Eidgenossen nicht nur Chefposten, sondern auch Wohnungen und Theaterplätze streitig. „Das wurde zum Teil als symbolischer Abstieg wahrgenommen“, sagt der Zürcher Politgeograf Michael Hermann. Er weist aber darauf hin, dass der Zustrom schon vor Einführung der vollständigen Personenfreizügigkeit begonnen habe und seit dem Rekordjahr 2008, als 30.000 Deutsche in die Schweiz kamen, im selben Tempo zurückgehe, wie er angeschwollen war. Seit die deutsche Wirtschaft wieder angezogen habe, sei Auswandern nicht mehr so attraktiv. Stattdessen kämen vermehrt Zuwanderer aus südlichen EU-Krisenländern. „Man wird die Deutschen schon bald vermissen“, sagt Herrmann. Aus der vor allem medial geführten Debatte seien sie jedenfalls verschwunden.

Thimm sagt, er habe nie Probleme mit den Schweizern gehabt. Über die „Masseneinwanderungsinitiative“ der SVP ärgert er sich aber doch. „Ich bin in das System integriert“, sagt er, „gebe meine Arbeitskraft, zahle Steuern, Versicherungen und Sozialabgaben.“ Es sei legitim, über Probleme zu diskutieren, nicht aber, „mit den Alltagssorgen der Menschen Ängste zu schüren“. Im Falle einer Annahme befürchtet er vor allem, nicht mehr genug Fachkräfte für den Operationsbetrieb im Langenthaler Krankenhaus zu finden. Bereits jetzt kann er sechs offene Stellen nicht besetzen. Für ihn persönlich würde sich aber wenig ändern, glaubt Thimm, obwohl noch nicht ganz klar ist, was der im Initiativtext geforderte Schweizer-Vorrang für bereits Zugewanderte oder in der Schweiz geborene Kinder von Migranten bedeutet. Er hat bereits eine sogenannte C-Bewilligung, die ihm unbeschränkten Aufenthalt gewährt und ihn auch in den meisten anderen Bereichen mit Schweizern gleichstellt. Nur abstimmen, das darf er am Sonntag nicht.