Ein Land steht am Abgrund: Die Fronten zwischen Opposition und ukrainischer Staatsmacht bleiben auch nach letztem Krisengespräch verhärtet. Ultimatum soll Janukowitsch zum Einlenken bewegen.

Kiew. Auf dem Maidan, dem zentralen Platz der ukrainischen Hauptstadt Kiew, sind sie bereit zum Kampf gegen die Staatsmacht. Neue Barrikaden wurden errichtet, Autoreifen, Stacheldraht, Säcke mit Schnee aufgetürmt – das soll den Unabhängigkeitsplatz vor einem möglichen Sturm durch die Polizei schützen, der immer noch befürchtet wird. „Wir werden uns verteidigen, wir haben keinen Ausweg mehr“, sagte Roman, einer der Regierungsgegner. „Wegen der neuen Gesetze sind wir alle zu Verbrechern geworden.“

Wie Zehntausende andere Demonstranten auch wartete der Ingenieur aus Iwano-Frankiwsk im Westen der Ukraine am Donnerstag auf das Ende der Verhandlungen zwischen der Opposition und dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, die sich über mehrere Stunden hinzogen. „Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten, entweder hier weiter rumzutanzen oder Regierungsgebäude zu stürmen“, sagt Roman. „Die Zeit der Demagogie ist vorbei.“

Die Hoffnung auf eine rasche Entspannung der Situation wurde enttäuscht. Bei ihrem neuen Krisengespräch erzielten Janukowitsch und führende Regierungsgegner zunächst keinen Durchbruch. Oppositionspolitiker Vitali Klitschko bat die Demonstranten am späten Abend im Zentrum von Kiew um Geduld und einen „Waffenstillstand“. Die prorussische Führung habe allerdings zugesagt, die etwa 100 festgenommenen Protestierer binnen drei Tagen freizulassen, sagte der Ex-Boxweltmeister nach den fast fünfstündigen Gesprächen, an denen auch der frühere Außenminister Arsenij Jazenjuk und Oleg Tiagnibok von den Nationalisten teilgenommen hatten. „Ich hoffe, sie hält ihr Versprechen“, rief Klitschko. Die Menge reagierte mit Pfiffen und „Schande“-Rufen.

Präsident Janukowitsch hatte die Opposition zuvor zur Kompromissbereitschaft aufgefordert. Die Regierungsgegner müssten eine konstruktive Position einnehmen, sagte er der Agentur Interfax. „Die Führung tut alles, um Frieden und Stabilität in der Ukraine zu gewährleisten“, so der prorussische Staatschef. Angesichts der tödlichen Straßenschlachten rief er zur Vernunft auf. „Heute gibt es kein ,Wir‘ und kein ,Ihr‘ – alle Menschen gehören zu unserem ukrainischen Volk“, sagte er. Janukowitsch hatte zuvor die Opposition für die Eskalation der Gewalt verantwortlich gemacht.

Merkel telefoniert mit Janukowitsch

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) appellierte am Donnerstag an Janukowitsch, die Einschränkung der Bürgerrechte in seinem Land aufzuheben. In einem Telefongespräch habe sie den Staatschef aufgefordert, „mit der Opposition einen ernsthaften Dialog zu führen und zu greifbaren Ergebnissen zu kommen“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Dazu gehörten die Überprüfung und Rücknahme von im Eilverfahren verabschiedeten Gesetzen, mit dem die Bürgerrechte eingeschränkt worden seien. Die Kanzlerin sei bestürzt über die „jüngsten Gewaltausbrüche“ in Kiew.

Auch US-Vizepräsident Joe Biden schaltete sich im Tagesverlauf in den Konflikt ein. Er forderte Janukowitsch in einem Telefonat auf, für ein Ende des Blutvergießens zu sorgen. Zugleich warnte er vor Folgen für die Beziehungen zwischen den USA und der Ukraine, sollte es zu weiterer Gewalt kommen. Ein Sprecher des US-Präsidialamts fügte hinzu, damit seien auch Sanktionen gemeint.

Schon am Mittwochabend hatte Oppositionsführer Arsenij Jazenjuk Janukowitsch öffentlichkeitswirksam ein Ultimatum gesetzt. Man gebe ihm 24 Stunden, sagte er auf dem Maidan. In dieser Zeit müsse der ungeliebte Machthaber Kompromisse eingehen, zurücktreten, die Regierung entlassen oder die neuen Gesetze, die die Presse- und Versammlungsfreiheit einschränken, abschaffen.

Immerhin: Auf Druck der Opposition opfert Janukowitsch nun wohl seinen Regierungschef Nikolai Asarow. Das Parlament in Kiew soll in der kommenden Woche über Asarows Absetzung entscheiden. Auf den Prüfstand sollen auch die zuletzt im Eiltempo durchgepeitschten Gesetze zur Einschränkung der Presse-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Dass Viktor Janukowitsch jetzt in wichtigen Punkten doch einlenkt, dürfte auch mit ersten Diskussionen im Westen um mögliche Strafmaßnahmen zu tun haben.

„Wenn der Präsident nicht auf das Volk hört, wird das Volk zu ihm gehen“, sagt Geschichtslehrer Viktor Janeschin. Er hofft aber bis zum letzten Moment, dass es keine weitere Gewalt geben wird. „Ich habe Angst, aber ich würde mit allen mitgehen“, sagt Designerin Irina Gontscharowa. Sie sagt, sie hoffe, dass westliche Sanktionen die ukrainische Führung zu einem Kompromiss bewegen können.

Eine Hoffnung auf das Ende der Gewalt gab es erstmals gegen Mittag: Oppositionsführer Vitali Klitschko kam zu den Barrikaden auf der Gruschewskogo-Straße, wo Straßenkämpfe mit der Polizei die ganze Nacht gedauert hatten. Er rief die Demonstranten zu einem Waffenstillstand bis zum Ende der Verhandlungen mit dem Präsidenten auf. „Haltet die Barrikaden, aber verhaltet euch ruhig, bis die Gespräche beendet sind“, sagte der frühere Box-Weltmeister. Er wandte sich eindringlich an Janukowitsch: „Sie, Herr Präsident, haben die Möglichkeit, die Angelegenheit zu lösen. Vorgezogene Wahlen werden die Situation ohne Blutvergießen ändern – und wir werden alles dafür tun, um das zu erreichen.“

Für Klitschko war es ein wichtiger Moment. Viele Demonstranten sind von den Oppositionsführern enttäuscht, und es wurde befürchtet, dass sie keinen Einfluss mehr auf die Proteste haben. Indem Klitschko einen Waffenstillstand vereinbarte, konnte er beweisen, dass die Menge noch auf ihn hört. Tatsächlich wurden am frühen Nachmittag brennende Autoreifen auf der Gruschewskogo gelöscht, auf dem Schlachtfeld herrscht vorerst Ruhe.

In der Nacht waren auf der Gruschewskogo rund 50 Menschen verletzt worden, erzählt der Arzt Igor Raulinko, der freiwillig Erste Hilfe auf dem umkämpften Platz leistet. Viele Menschen seien durch Explosionen von Blendgranaten an den Beinen oder mit Gummigeschossen im Gesicht verletzt worden, sagt er. „Meine Kollegen haben auch Wunden behandelt, die durch scharfe Munition hervorgerufen wurden.“