Bislang galt die Ukraine als Beispiel für einen friedlichen Machtwechsel. Timoschenko ruft Landsleute zum Aufstand auf

Kiew. Die Gruschewskogo-Straße in Kiew bleibt seit Tagen das Zentrum der Straßenkämpfe. Am Mittwoch wurden dort drei Reihen von Barrikaden aus verbrannten Polizeibussen, Autoreifen und Stacheldraht aufgebaut. Demonstranten in Ski- und Bauhelmen standen Sondereinheiten der ukrainischen Polizei gegenüber. Zum Teil waren es gewaltbereite Demonstranten, die Flaschen mit Molotowcocktails füllten. Zum Teil waren es friedliche Menschen, die selbst keine Steine warfen, aber so enttäuscht und verbittert sind, dass sie keinen anderen Weg für den Protest sehen. „In zwei Monaten haben wir mit friedlichen Protesten nichts erreicht“, sagte Roman, der aus der Stadt Tschernihiw nach Kiew gekommen ist. Auch über die Oppositionellen wie Vitali Klitschko sind viele Demonstranten enttäuscht. „Ich sehe nicht, dass die Opposition etwas bewirken kann“, klagte der Unternehmer Sergej. „Aber wir müssen hier stehen, bis sich etwas ändert.“

Die Stimmung unter den Demonstranten war besonders verbittert, nachdem am Morgen die Nachrichten über die ersten Toten bei den Ausschreitungen verbreitet worden waren. Ukrainische Ärzte berichteten, dass mindestens fünf Menschen ums Leben gekommen sind, die Opposition sprach sogar von sieben Toten. Die Generalstaatsanwaltschaft bestätigte, dass zwei Demonstranten erschossen wurden. Mit den ersten tödlichen Schüssen eskaliert die Gewalt in Kiew.

Um zwölf Uhr begann die Polizei den Sturm und verdrängte Protestler von den Barrikaden. Sie setzte Tränengas und Gummigeschosse ein, bewarf Demonstranten mit Blendgranaten. Von der anderen Seite flogen Steine und Molotowcocktails. Radikale Gegner des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch liefern sich blutige Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften. Stapelweise brannten Reifen, giftiger schwarzer Qualm lag über dem Zentrum – es wirkte wie ein düsteres Omen. Spezialeinheiten rückten mit Schützenpanzern vor, Oppositionelle duckten sich hinter ausgebrannten Stahlskeletten von Einsatzfahrzeugen. Die Kämpfe dauerten den ganzen Tag an.

Mit dem Tod der ersten Demonstranten wäre eine historische Grenze überschritten, meint auch der deutsche Botschafter Christof Weil. Denn trotz aller Krisen und bisweilen gewaltsamer Proteste: Noch nie sind bei politischen Krisen in der seit 1991 unabhängigen Ex-Sowjetrepublik Schusswaffen eingesetzt worden. Im Gegenteil – bislang galt die Ukraine stets als Beispiel für friedlichen Machtwechsel, etwa bei der demokratischen Orangen Revolution 2004. Jetzt aber ist der Widersacher – Janukowitsch – von damals an der Macht. Und erstmals fließt Blut, beide Seiten beklagen Hunderte Verletzte.

Das Machtlager und die gemäßigte prowestliche Opposition um Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko machen sich gegenseitig verantwortlich für die Opfer. Kiew ist voller Gerüchte. Wer die tödlichen Schüsse abgefeuert hat, ist noch unklar. Unkontrollierte Spezialeinheiten oder vielleicht ultraradikale Provokateure? Neutrale Beobachter neigen zur ersten Möglichkeit. Angeblich sind Scharfschützen im Einsatz. Fakt ist aber: Einen offiziellen Schießbefehl haben die Einsatzkräfte nicht.

Vor allem westliche Experten halten auch Aufforderungen Russlands an die Regierung in Kiew, sich das Treiben nicht gefallen zu lassen, für brandgefährlich. Mit Milliarden Euro hat Kremlchef Wladimir Putin kürzlich den finanziell schwer angeschlagenen Nachbarn gestützt. Und in der Tat führte die Hilfe kurzfristig zu einer Entspannung, die dicken Schecks aus Moskau machen so manchem Hoffnung.

Aber längst gibt es zahlreiche Bürger, denen es darum geht, in einem anderen System zu leben. Vor allem junge Menschen machen bei den friedlichen Protesten auf dem Unabhängigkeitsplatz – dem Maidan – ihrer Sehnsucht nach einer Zukunft in einem freien Europa Luft. Sie fordern auf Dauer gleiche Bedingungen wie in der nahen EU mit visumfreien Reisen und ein Leben ohne Korruption. Diesen Traum hatte ihnen Janukowitsch genommen, als er Ende November ein weitreichendes Abkommen mit der EU auf Drucks Russlands verweigerte. Die Wut auf die „Banditen“ aus dem prorussischen Osten des Landes ist gewaltig. „Das Regime Janukowitsch ist eine Vereinigung von Kriminellen mit dem Staatsapparat“, schimpfte der Oppositionspolitiker und frühere Innenminister Juri Luzenko.

Dass Regierungschef Nikolai Asarow ungeachtet der Gewalteskalation zum Wirtschaftsforum ins Schweizer Davos fliegt, ist für viele der endgültige Beweis, dass der Führung das Volk egal ist. „Nieder mit der Diktatur!“, lautet die neue Parole auf der Straße. Den nationalistisch geprägten Westen um die Großstadt Lwiw (Lemberg) hat die Regierung ohnehin verloren. Von hier aus brechen täglich Hunderte zumeist junge Regierungsgegner in Richtung Kiew auf. Schon warnen Experten vor einem Zerfall des zweitgrößten Flächenstaats Europas, dem wichtigen Transitland für russisches Gas nach Westen.

Ein Treffen von Janukowitsch und den Oppositionsführern gilt als letzte Hoffnung auf einen Ausweg aus der Krise. Aber die Fronten sind verhärtet: Die Regierungsgegner beharren auf dem Rücktritt Janukowitschs und vorgezogenen Präsidentenwahlen, die bislang für 2015 geplant sind. Und sie verlangen die Rücknahme drakonischer Gesetze, die seit Mittwoch die Pressefreiheit und das Versammlungsrecht massiv einschränken.

Die inhaftierte Oppositionsführerin Julia Timoschenko hat nach den tödlichen Schüssen zum Aufstand gegen den Präsidenten aufgerufen. „Das Blut der Helden der Ukraine klebt an den Händen von Janukowitsch“, ließ die Ex-Regierungschefin verbreiten. Sie forderte die Sicherheitskräfte auf, zu den Demonstranten überzulaufen.