Der Nahverkehr kommt zum Erliegen, die Menschen sollen ihre Häuser nicht verlassen. Schießereien und Bomben auf der Straße: Hundertschaften der Polizei durchkämmen Stadtviertel auf der Suche nach dem überlebenden Attentäter.

Washington. Ein Eintrag auf der Website des MIT war am Donnerstagabend (Ortszeit) einer der ersten öffentlichen Hinweise auf die entscheidende Phase der Jagd nach den Bostoner Attentätern.

„Um 22.48 Uhr wurden Schüsse gemeldet in der Nähe von Gebäude 32.“

Die Schüsse waren auf dem Gelände des renommierten Massachusetts Institute of Technology 18 Minuten zuvor gefallen, ziemlich genau um 22.30Uhr, und hatten in Person eines 26-jährigen Beamten der Campus-Polizei ein viertes Todesopfer der Marathon-Terroristen gefordert. Doch jetzt zog sich die Schlinge um zwei Brüder aus Tschetschenien zu, die am Montag einen Anschlag mit zwei selbst gefertigten Bomben auf den Bostoner Marathon verübt hatten. Seit Donnerstagabend wurden ihre Fotos im Fernsehen und im Internet verbreitet. Der ältere der beiden, der 26-jährige Tamerlan Tsarnaev, starb in der Nacht bei der Schießerei mit der Polizei. Als am Freitagmorgen der jüngere, der 19-jährige Dschochar Tsarnaev, in einer Wohngegend der Waterfront Area von Boston von Sondereinsatzkommandos vermutet wurde und Agenten mit gezückten Waffen auf angrenzenden Dächern standen, sah die Fernsehnation beim morgendlichen Kaffee live zu, und die dramatischen Bilder wurden weltweit übertragen.

Die ersten dichten Informationen kamen in der Nacht allerdings nicht von professionellen Medien, sondern von einem Dozenten am MIT, wo sich in der Nacht auf Freitag das Schicksal der beiden Brüder entschied. Von der Website des Instituts offenkundig auf die Spur gebracht, hatte sich Seth Mnookin in der Nacht an den Ort des Geschehens begeben und danach fast pausenlos getwittert, was er in seiner Umgebung sah und erfuhr. Etliche Journalisten weltweit folgten bald seinen Kurznachrichten, die so begannen:

„Automatische Warnanrufe, E-Mails gehen an die MIT-Nachbarschaft; Schüsse beim Stata Center.“

Mnookin, der an dem elitären Technologiezentrum kreatives Schreiben lehrt, informierte seit Mitternacht und dann nahezu rund um die Uhr über die dramatischen Ereignisse zunächst auf dem Campus. Dort war der Polizist erschossen worden, und in der Nähe starb später der ältere der beiden Bombenleger. Mnookin berichtete von aufmarschierenden Polizeieinheiten und Helikoptern über dem Institutsgelände. Später wechselte er zum nahen Waterfront-Gebiet, wohin der jüngere Täter geflüchtet war: „Kann Pulverdampf riechen in Watertown nahe Arsenal Mall.“ Aber Mnookin informierte auch darüber, dass viel später ein Reporter seiner Redaktion oder gar in einer Radio-Liveschaltung den Zuhörern erzählte: „Hier riecht alles nach Rauch.“ Überhaupt nichts sei derzeit zu riechen, mokierte sich der Tweet-freudige Wissenschaftler.

Zwischendurch vermeldete Mnookin auch Entwicklungen, die sich später als Irrtum herausstellten. So ließ er seine Follower um 2 Uhr morgens praktisch live teilhaben an der Festnahme eines Verdächtigen aus einem Auto heraus, samt den insbesondere für amerikanische Ohren ausgesprochen heftigen Anweisungen der zum Campus geeilten Polizisten: „Lass deine verdammten Hände, wo sie sind! Beweg deine verdammten Hände nicht!“ Der Verdächtige musste sich bis auf die Unterhose ausziehen, wurde gefesselt und weggeschafft. Als später die Nachricht vom Tod des Tamerlan Tsarnaev die Runde machte und die Frage aufkam, wie er denn gestorben sein könne nach der offenkundig erfolgreichen Verhaftung, beeilte sich Mnookin um Recherche. Er teilte „allen Verschwörungstheoretikern“ kurz darauf mit, dass es sich bei dem so dramatisch verhafteten Mann um einen Unschuldigen gehandelt hatte, der zwischenzeitlich wieder auf freien Fuß gesetzt worden war: „Zur falschen Zeit am falschen Ort.“

Denn die beiden Brüder hatten zu diesem Zeitpunkt den MIT-Campus bereits verlassen. Kurz nachdem sie den Polizisten, der sie offenkundig überprüfen wollte, mit mehreren Schüssen niedergestreckt hatten, stoppten sie einen Mercedes-SUV. Sie zwangen den Fahrer, sie mitzunehmen. Ihm eröffneten sie laut dessen Aussage auch, dass sie den Anschlag auf den Marathon ausgeübt hätten. Nach einer halben Stunde ließen sie ihre Geisel unverletzt an einer Tankstelle am Memorial Drive in Cambridge frei.

Die Polizei hatte das gestohlene Auto bald im Visier. Es kam zu einem Schusswechsel, in dessen Verlauf ein weiterer Polizist verletzt wurde. Aber auch Tamerlan Tsarnaev war verwundet worden – offenkundig nicht nur durch Kugeln der Polizei, sondern auch, weil sein Bruder ihn bei der überstürzten Weiterfahrt nach einem kurzen Halt versehentlich überfahren hatte. Er starb kurz darauf an seinen Verletzungen, während der jüngere Bruder, Dschochar seine Flucht in dem Auto fortsetzte. Der Attentäter hatte seinen Körper mit einem Sprengsatz präpariert, der aber nicht explodiert war.

„Explosionen im Zielbereich des Bostoner Marathons. Tote und Verletzte.“

Mit dieser Eilmeldung begann am Montagnachmittag um 14.49 Uhr die wohl dramatischste Woche in den USA seit dem 11. September 2001. Drei Zuschauer, darunter ein achtjähriger Junge, waren dabei getötet und über 180 weitere Menschen zum Teil schwer verletzt worden. Das FBI und mit ihnen die Homeland Security, örtliche Polizeikräfte und Geheimdienste untersuchten den Anschlag von Beginn an als „terroristische Tat“. Dass sie einen islamistischen Hintergrund und keinen einheimisch-radikalen hatte, war von Beginn an der vorherrschende Verdacht. Aber erst in dieser dramatischen Nacht und am frühen Freitag wurde er verstärkt (wenngleich zunächst noch immer nicht bewiesen) durch den muslimischen Hintergrund der Brüder.

„Das FBI hat Fotos und Videos zweier Verdächtiger veröffentlicht. Sie gelten als gefährlich. Wer sie sieht oder erkennt, wende sich unbedingt an die Polizei.“

Mit dieser Eilmeldung kündigte sich am Donnerstagnachmittag der Durchbruch in der Jagd nach den Bostoner Tätern an. Die FBI-Ermittler präsentierten nunmehr Steckbriefe der mutmaßlichen Bombenleger. Sie waren auf den Videos von Kameras umliegender Geschäfte und aus den Foto- und Filmaufnahmen von Passanten identifiziert worden. Der entscheidende Hinweis auf die Täter kam aber von einem ihrer Opfer selbst, nämlich von Jeff Bauman, dem bei dem Bombenanschlag beide Beine abgerissen worden waren. Das Gesicht des 27-Jährigen war zusammen mit dem eines ersten Helfers, Carlos Arredondo, dem Mann mit dem Cowboyhut, durch ein Foto, das um die Welt ging, zu einer Ikone der Bostoner Tragödie geworden.

Als der an beiden Beinstümpfen operierte Jeff im Krankenhaus aufwachte und noch unter dem Einfluss der Anästhesie stand, bat er um Papier und Stift und schrieb die Worte: „Tasche, sah den Kerl, schaute mich direkt an.“ Wie Jeffs Bruder Chris inzwischen in einem Interview erzählte, hatte Bauman am Montag nahe der Ziellinie auf seine im Marathon mitlaufende Freundin gewartet.

Er sah in seiner unmittelbaren Nähe einen Mann mit Baseballkappe, schwarzer Jacke und Sonnenbrille, der eine Tasche auf den Boden stellte und dabei den Blick mit Jeff kreuzte. Zweieinhalb Minuten später explodierte diese Tasche. Der schwer verletzte Jeff informierte das FBI umgehend über seine Beobachtung und beschrieb den Taschenträger. Er half damit den Ermittlern, verdächtige Personen auf dem Video- und Fotomaterial einzugrenzen, und schließlich Tamerlan Tsarnaev, den älteren der beiden Täter, zu identifizieren. Damit kam die Fahndung in die entscheidende Phase. Jetzt gab es einen echten Ansatzpunkt für die Suche nach den Tätern. Und jetzt ging die Jagd ihrem Ende entgegen. Der jüngere Täter war bei Redaktionsschluss allerdings noch nicht gestellt.

„Es gibt keine Werte mehr, die Menschen haben sich nicht mehr unter Kontrolle… ich habe nicht einen einzigen amerikanischen Freund. Ich verstehe sie nicht.“

Wer waren die Täter, was trieb sie an? Noch sind die Informationen über den Hintergrund der Brüder fragmentarisch. Bekannt ist, dass die Familie, zu der auch zwei Schwestern gehören, im Jahr 2002 in die USA auswanderten und, so heißt es, um politisches Asyl nachsuchte. Tamerlan wurde in Russland geboren, Dschochar in Kirgisien. Was immer die Motive der Brüder für ihre Taten waren, mindestens Dschochar zeigte eine bemerkenswerte Assimilationsfähigkeit. Er besuchte die Cambridge Ringe & Latin School in Boston; im Februar 2011 wurde er zum „Student Athelete of the Month“ gekürt. Obendrein qualifizierte er sich für ein Stipendium im Wert von 2500 Dollar, das von der Stadt Cambridge vergeben wird. In der Namensliste von nahezu 50 Stipendiaten für 2011 findet er sich an drittletzter Stelle. Die meisten Namen deuten auf eine ausländische Herkunft hin. Was allerdings im Einwanderungsland USA nicht viel heißen muss. Lehrer und Mitschüler rühmen ihn als netten, neugierigen, intelligenten jungen Mann; Mathematik war offenbar seine besondere Begabung.

Tamerlan soll ein begeisterter Boxer gewesen sein. Unter einem Bild Tamerlans in einem sozialen Netzwerk heißt es: „Wenn er genügend Kämpfe gewinnt, so Tamerlan, könnte er sich für das Olympia-Team der USA qualifizieren… Solange seine Heimat Tschetschenien nicht unabhängig sei, würde er eher für die Vereinigten Staaten antreten als für Russland.“ In demselben Interview erklärte Tamerlan, dass er als gläubiger Muslim den Genuss von Tabak und Alkohol aufgegeben habe, Allah habe Alkohol verboten: „Es gibt keine Werte mehr, die Menschen haben sich nicht mehr unter Kontrolle… ich habe nicht einen einzigen amerikanischen Freund. Ich verstehe sie nicht.“ Auf seiner Seite bei YouTube finden sich mehrere Videos über den Islam. Tamerlan hörte gern Lieder des tschetschenischen Sängers Timur Mutsurajew, etwa „Widme dein Leben dem Dschihad“.