Das Abendblatt erklärt in einer Serie die gefährlichsten Krisenherde der Welt. Heute: Kaschmir, gelegen zwischen Indien und Pakistan.

Hamburg. Maharadscha Hari Singh hatte sich alles genau überlegt. 1947 schickten sich die Briten an, ihr riesiges indisches Kolonialreich in die Unabhängigkeit zu entlassen und den Subkontinent zwischen Hindus und Muslimen aufzuteilen. Hari Singh, der den Thron des Fürstentums Jammu und Kaschmir 1926 von seinem Onkel geerbt hatte, zog die Verhandlungen darüber, wem er sich nun anschließen sollte, endlos in die Länge. Der Maharadscha spekulierte, dass er am Ende für sein Fürstentum die Unabhängigkeit zementieren könnte. Ihm schwebte eine neutrale "Schweiz Asiens" vor.

Er selber war Hindu und von den Briten exzellent ausgebildet worden, war von 1944-46 sogar Mitglied des Imperialen Kriegskabinetts gewesen. Der größte Teil seiner Untertanen jedoch - fast 80 Prozent - bestand aus Muslimen. Das kam daher, dass große Teile Indiens ab dem 13. Jahrhundert unter die Herrschaft islamischer Eroberer geraten waren. Ihren Höhepunkt erreichte diese muslimische Kultur mit den Mogulfürsten ab dem 16. Jahrhundert.

Später kamen die Briten und machten Indien zum Kronjuwel ihres Imperiums. Führer der Unabhängigkeitsbewegung war im 20. Jahrhundert der legendäre Mahatma Gandhi, der die Briten mit seiner Taktik des gewaltlosen Widerstands und zivilen Ungehorsams zermürbte. Die Idee einer Teilung Indiens 1947 ging auf einen Plan des früheren Generalgouverneurs und Vizekönig von Indien, Lord Mountbatten, zurück. Offiziell war es den Herrschern der fast 600 Fürstentümern überlassen, ob sie zu Indien oder dem neuen Staat Pakistan gehören wollten. Die meisten wählten Indien, schon weil sie an Schutzverträge mit den Briten gebunden waren. Der muslimische Herrscher des überwiegend hinduistischen Fürstentums Hyderabad, der ebenfalls die Unabhängigkeit wünschte, wurde von indischen Truppen zum Anschluss gezwungen.

In Jammu und Kaschmir taktierte Hari Singh so lange, bis die Teilung vollendet war und es zu Aufständen seiner Bevölkerung kam - die von Muslimen aus Pakistan angefacht wurden. In der Region Punch - das beliebte Getränk hat dort seinen Ursprung - riefen Rebellen bereits die Republik Azad Kaschmir - freies Kaschmir - aus.

Der Maharadscha bat Indien um Hilfe - doch die Inder forderten als Preis den Anschluss an ihre Union. Und schließlich unterzeichnete der bedrängte Fürst das gewünschte Dokument. Pakistan betrachtete diesen Anschluss als unrechtmäßig - und so kam es zwischen 1947 und 1949 zum Ersten Indisch-Pakistanischen Krieg. Große Teile des vorwiegend muslimischen Kaschmirs gehören seitdem zu Indien; das nordwestliche Drittel Kaschmirs allerdings zu Pakistan.

Im Zuge der Teilung kam es zu einer der folgenschwersten Vertreibungen der Geschichte; rund zehn Millionen Hindus und Sikhs mussten Pakistan verlassen, im Gegenzug flohen rund sieben Millionen Muslime aus Indien. Rund eine Million Menschen kam dabei ums Leben. Das von der Uno 1949 verlangte Referendum zur grundlegenden Lösung der Kaschmir-Frage kam niemals zustande. Insgesamt vier Kriege haben die beiden Rivalen inzwischen um Kaschmir geführt - 1947, 1965, 1971/72 und 1999.

In der Folge des Krieges 1971 spaltete sich das ebenfalls muslimische Bangladesch - das ehemalige Ostbengalen - mit indischer Unterstützung von Pakistan ab. Die Dauerkrise ist deshalb eine der gefährlichsten der Welt, weil sowohl Indien als auch Pakistan inzwischen über Atomwaffen verfügen. Indien hat mehr als 1,1 Millionen Soldaten unter Waffen, das bitterarme Pakistan fast 600.000 Mann. Ständig kommt es in Kaschmir zu Kämpfen, Anschlägen und Artillerieduellen. 1990 und 2001 sowie 2002 standen Indien und Pakistan am Rande eines weiteren Krieges. Pakistan drohte mit dem Einsatz "nicht konventioneller Waffen". Einer Studie der US-Regierung nach würde selbst ein begrenzter Atomkrieg zwischen beiden Staaten mindestens zwölf Millionen Todesopfer fordern. Pakistan schickt radikalislamische Terrorgruppen in den indischen Teil Kaschmirs, um diesen zu destabilisieren. Eine unrühmliche Rolle spielt auch hier der berüchtigte pakistanische Geheimdienst ISI. Inzwischen sind die muslimischen Gruppen äußerst militant und einem Dschihad-Gedanken verpflichtet. 1990 erreichte der Terror ein solches Ausmaß, dass 100.000 kaschmirische Hindus aus dem Kaschmir-Tal nach Jammu flohen. Das ist einer der Hauptgründe, warum Indien den pakistanischen Vorschlag eines allgemeinen Truppenabzugs aus Kaschmir 2003 ablehnte. 200.000 indische Soldaten haben Kaschmir in eine Besatzungszone verwandelt.

Beide Staaten erheben nach wie vor einen Anspruch auf ganz Kaschmir. Pakistan will allen Muslimen des Subkontinents eine zusammenhängende Heimat schaffen; Indien will eine Erosion seiner komplizierten Union mit zahlreichen Ethnien, 100 Sprachen und etlichen innerindischen Konflikten vermeiden. Zudem gründet sich das Selbstverständnis der "größten Demokratie der Welt" auf eine säkulare Nation.

Im Übrigen ist das einstige Fürstentum Kaschmir keineswegs nur zweigeteilt. 1962 besetzten chinesische Truppen das Gebiet von Aksai Chin im westlichen Teil der indischen Region Ladakh; einen Waffengang verloren die Inder. 1963 trat Pakistan zudem ein Gebiet am Berggiganten K2 an China ab - es wird wiederum von Indien beansprucht.

Der Kaschmir-Konflikt gilt aufgrund seiner religiösen, ethnischen und politischen Komponenten als ähnlich verfahren und kompliziert wie der Nahost-Konflikt.

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