Das Abendblatt erklärt die gefährlichsten Konfliktherde der Erde in einer zehnteiligen Serie. Im fünften Teil geht es um Ägypten.

Hamburg. Am 15. Juli 1799 soll das Pferd des französischen Offiziers François Bouchard, Angehöriger des napoleonischen Expeditionsheeres, bei Rosette im ägyptischen Niltal über einen Stein gestolpert sein, der aus dem Sand ragte. Als Bouchard sich die Sache näher ansah, erkannte er, dass der Stein mit uralten Schriftzeichen bedeckt war. Wie sich erwies, war der Text in demotischer und hieratischer Schrift sowie in Hieroglyphen verfasst. Aufgrund einer Abschrift gelang es dem Sprachforscher Jean-François Champollion 1822, die Texte und damit auch die Hieroglyphenschrift zu entschlüsseln.

Nach Jahrtausenden des Schweigens konnte plötzlich eine rätselhafte Kultur verstanden werden, deren gigantische steinerne Zeugnisse überall im Ägypten standen. Eine Ägypten-Manie brach über Europa herein.

Zivilisation und Baukunst am Nil waren schon im Alten Reich, das vor rund 4700 Jahren gegründet wurde, hoch entwickelt. Die Pyramiden von Gizeh und der riesige Sphinx - "Abu el-Hol, Vater des Schreckens" genannt - künden seit dieser Zeit vom ungeheuren Können der alten Ägypter. Deren Blütezeit ging um 500 vor Christus zu Ende; erst verleibten sich die Perser das Land ein, dann Alexander der Große, später Römer und Byzantiner. Bevor islamische Araberheere um 640 Ägypten eroberten, war das Land christlich geprägt. Unter dem Banner des Propheten wird al-Qahira - "die Siegreiche", das wir als Kairo kennen, Hauptstadt des Fatimidenreiches. 1517 wird Ägypten Teil des Osmanischen Reiches - bis Napoleon kommt und wiederum von den Briten besiegt wird. 1914 wird Ägypten britisches Protektorat - und 1936 zunächst als Königreich unabhängig.

In der Suezkrise 1956 versuchen die Briten zusammen mit Franzosen und unter israelischer Beteiligung, den panarabisch-nationalistischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser zu stürzen. Nasser hatte den 1869 fertiggestellten Suezkanal verstaatlicht, um sich aus der Einflusssphäre Großbritanniens zu lösen. Die als "neoimperialistisch" kritisierte Offensive wird von den USA und der Sowjetunion vor der Uno gestoppt; London und Paris ziehen ihre Truppen zurück. Es ist der letzte Versuch der alten Kolonialmächte, noch einmal die Kontrolle über Ägypten zu erlangen.

Dreimal - 1948, 1967 und 1973 - erleidet die ägyptische Armee schwere Niederlagen gegen Israel - bis der ägyptische Präsident Anwar as-Sadat 1979 den Mut aufbringt, Frieden mit dem jüdischen Nachbarn zu schließen. Sadat erhält dafür zusammen mit Israels Premier Menachem Begin - einem ehemaligen Terroristen - den Friedensnobelpreis, wird aber 1981 von einem islamistischen Fanatiker ermordet.

Die heutige Lage Ägyptens ist das Resultat der langen Regierungszeit von Sadats ehemaligem Stellvertreter und Nachfolger Husni Mubarak. Der Luftwaffengeneral etablierte sich ab 1981 zum neuen "Pharao" und installierte eine autoritäre Herrschaft, die erst am 11. Februar des Revolutionsjahres 2011 mit seinem Rücktritt endete. Der Westen, der Mubarak jahrzehntelang hofiert hatte, ließ ihn schließlich fallen.

Husni Mubarak hatte ein auf seine Person zugeschnittenes System aus Militär, Verwaltung und Justiz geschaffen, regierte mit Notstandsgesetzen und ließ vermutlich Wahlen fälschen. Regimegegner - und dazu zählten auch die islamistischen Muslimbrüder - mussten mit Inhaftierung, Folter und Exekution rechnen. Der in Tunesien ausgebrochene Arabische Frühling traf Anfang 2011 in Ägypten auf ein versteinertes und korruptes System, das den sozialen Herausforderungen schon lange nicht mehr gerecht wurde.

Hatte Ägypten um das Jahr 1800 gerade einmal 2,5 Millionen Einwohner und 100 Jahre später erst zwölf Millionen, so ist die Bevölkerungszahl bis heute auf rund 85 Millionen Menschen explodiert. Es gibt zu wenig Arbeit; die Wirtschaft liegt darnieder, die ägyptische Jugend ist praktisch perspektivlos.

Die 1928 von Hassan al-Banna gegründete Muslimbruderschaft schwoll derweil im Untergrund immer weiter an und fand genügend Anhänger unter den Millionen Frustrierten. Sie ist heute vermutlich die einflussreichste Bewegung im sunnitischen Islam. Vor allem ihre jüngere Generation hat sich weitgehend entradikalisiert und lehnt die Idee der Demokratie nicht mehr ab. Am Ausbruch der Revolution in Ägypten mit den Massenprotesten vor allem junger Menschen war die Muslimbruderschaft aber zunächst kaum beteiligt, da ihre Führer sich nicht einig waren, wie damit umzugehen sei.

Da die islamistischen Parteien, allen voran die Muslimbrüder, jedoch als einzige Oppositionsgruppe gut organisiert war, konnte sie am 28. November 2011 die Parlamentswahlen mit etwa 70 Prozent gewinnen. Bei den Präsidentschaftswahlen im Mai und Juni dieses Jahres setzte sich der Muslimbruder Mohammed Mursi durch. Er feuerte zunächst die Führungsspitze der bis dato nahezu allmächtigen Streitkräfte. Die auf ihn zugeschnittenen Sondervollmachten nahm Mursi inzwischen zurück; er will aber am Sonnabend über eine neue Verfassung für Ägypten abstimmen lassen, die das Land nach Ansicht von Kritikern in einen islamischen Gottesstaat verwandeln könnte. Dagegen protestieren nun Hunderttausende in Kairo.

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