Russische Gefängnisse haben einen üblen Ruf. Amnesty International setzt sie mit Folter gleich. Präsident Medwedew plant nun Reformen.

Moskau. Die "Butyrka", das Moskauer Untersuchungsgefängnis Nr. 2, Baujahr 1771, genießt einen üblen Ruf. Womit es sich allerdings kaum von den anderen Haftanstalten des Landes unterscheidet. Der Aufenthalt in Russlands Gefängnissen und Lagern, so konstatierte Amnesty International schon vor Jahren, sei der Folter gleichzusetzen. Die Häftlinge sprechen von der "Hölle auf Erden". Kein Ort, den Moskau gern Ausländern vorführt. Kein Wunder also, dass es fast drei Wochen dauerte, ehe die Besuchsgenehmigung vorlag. Verzögernd mag auch die Tatsache gewirkt haben, dass just in der Zeit der 37 Jahre alte Anwalt Sergej Magnitski in einer Zelle der Butyrka gestorben war. An Herzversagen, behaupten die Behörden, an unterlassener Hilfeleistung, sagen die Freunde Magnitskis.

Alexander Polkin, Oberstleutnant, stellvertretender Gefängnischef, empfängt die Besucher und führt sie durch das Labyrinth der Butyrka - vorbei an Zellentüren, treppauf, treppab. Krachend fallen die Stahltüren ins Schloss. Polkin nennt es den "Klang der Butyrka".

Stolz zeigt der Oberstleutnant den Zugang zum Museum im Pugatschow-Turm, der hinter einem schwenkbaren Regal versteckt ist. Das Museum ist eine Einrichtung aus sowjetischer Zeit und hat seither kaum Veränderungen erfahren. Das Porträt von Feliks Dserschinski, dem Gründer der Tscheka, der berüchtigten Geheimpolizei der Bolschewisten, der in der Zarenzeit hier einsaß, nimmt einen zentralen Platz ein. Auch Stalin sei zweimal hier gewesen, berichtet Polkin im Ton eines Reiseführers, der auf eine besondere Sehenswürdigkeit stolz ist.

Kein Hinweis indes darauf, dass im Hof des Gefängnisses am 1. August 1946 General Wlassow und weitere zwölf hohe ehemalige sowjetische Offiziere gehenkt wurden, weil sie während des Großen Vaterländischen Krieges auf deutscher Seite gekämpft hatten. Keine Zeugnisse auch von Häftlingen wie Ossip Mandelstam, Lydia Ginsburg oder Warlam Schalamow, einem der größten russischen Literaten des 20. Jahrhunderts. "Schalamow?", fragt Polkin verwundert, "nie gehört, aber hier waren ja so viele."

Von Alexej Magnitski freilich hat er gehört, will aber nicht darüber reden. Der Fall Magnitski ist typisch für das russische Strafvollzugssystem, sagen Kenner der Materie. Es sei üblich, gerade den Untersuchungshäftlingen medizinische Hilfe zu verweigern, um aus ihnen Aussagen herauszupressen.

Insgesamt sind die Lebensbedingungen für die rund 875 000 Insassen russischer Gefängnisse und der 755 Lager so fürchterlich, dass das Justizministerium in einem Bericht selbst zugeben musste: Die Zustände "erniedrigen die menschliche Würde, führen zu physischem und moralischem Leid, verletzen das Menschenrecht auf Schutz der Gesundheit und der persönlichen Sicherheit". Die Folge: Auf 100 000 Häftlinge kamen im Jahr 2005 insgesamt 540 Todesfälle, 686 Insassen wurden zu Invaliden. Im Jahr 2010 sollen die entsprechenden Kennziffern auf 420 beziehungsweise 675 gesenkt werden.

Diese Zustände sollen nun ein Ende haben. Präsident Dimitri Medwedew, studierter Jurist, hat nach dem Todesfall des Anwalts Magnitski Dutzende Verantwortliche feuern lassen und will nun das Strafvollzugssystem grundlegend reformieren. Generalleutnant Alexander Rejmer, kürzlich zum Chef des Strafvollzugs Russlands ernannt, verfolgt eigenem Bekunden nach das ehrgeizige Ziel, die von ihm geleitete Institution vom stalinschen Erbe zu befreien. "Mit den Überresten des Gulag muss Schluss gemacht werden", sagte er im russischen Fernsehen.

Stattdessen will er ein modernes, menschenwürdiges Strafvollzugssystem aufbauen. Nach erfolgter Reform sollen nur zwei Arten des Vollzugs übrig bleiben. Verurteilte, die kleinere oder mittlere Untaten zu sühnen haben, werden ihre Zeit in einfachen Kolonien oder in solchen mit verschärften Bedingungen abarbeiten. Schwerverbrecher verbleiben in den Gefängnissen. Beide Gruppen will Rejmer streng voneinander trennen, um zu verhindern, dass die Gangsterwelt ihren Nachwuchs im Knast rekrutiert.

Keinen Einfluss hat Rejmer allerdings auf die russische Justiz und deren Obsession, Menschen selbst bei kleinen Delikten "wegen Flucht- und Verdunkelungsgefahr" in Untersuchungshaft zu bringen. Dort "schmoren" die Verdächtigen oft Jahre unter unmenschlichen Zuständen, ehe ein Gerichtsverfahren eröffnet wird.

Der Weg hinaus führt über den Hof an fünf Meter hohen Mauern entlang, die durch mehrfache Stacheldraht-Verhaue gesichert sind. Eine Flucht scheint unmöglich. Den letzten Ausbruch hat es denn auch im Jahr 2001 gegeben. Drei Lebenslängliche gruben sich unter der Mauer hindurch. Sie wurden alle wieder eingefangen.