Der Übergangsrat will die Leiche nicht untersuchen lassen und spricht von Tod im Kampf. Mediziner vermuten Exekution durch die Rebellen.

Hamburg. Auch nach dem gewaltsamen Tod des Despoten Muammar al-Gaddafi kehrt noch keine Ruhe in Libyen ein. Gerade die Umstände seines Todes werfen einen Schatten des Zweifels auf die libyschen Rebellen und den Nationalen Übergangsrat, der das Land nach Monaten des Bürgerkriegs wieder politisch stabilisieren will.

Der Übergangsrat lehnte ein Ersuchen des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag ab, Gaddafis Leiche für eine gerichtsmedizinische Untersuchung zur Verfügung zu stellen.

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Wie Libyens Ministerpräsident Mahmud Dschibril erklärte, habe der Rat anders entschieden und werde den Leichnam irgendwo nach islamischem Ritus bestatten. Es sei aber "ziemlich egal", was nun mit Gaddafis Körper passiere, sagte Dschibril, "Hauptsache er verschwindet". Ob der Rat damit nur verhindern will, dass aus Gaddafis Grab ein Wallfahrtsort für seine Anhänger wird, oder ob er die wahren Todesumstände verschleiern will, blieb unklar.

Gaddafis Leiche war von seiner Heimatstadt Sirte nach Misrata gebracht worden. Dort wurden seine goldene Pistole, sein Satellitentelefon und seine Kleidung wie Trophäen bestaunt. Der Leichnam wird jetzt im Kühlraum eines Einkaufszentrums gelagert. Ein AP-Korrespondent, der den Raum betreten durfte, sagte: "Der Ex-Herrscher liegt auf einer blutdurchtränkten Matratze in einer Kühlhalle, in der normalerweise Restaurants ihre Vorräte aufbewahren. Er war mit einer beigen Hose bekleidet, der Oberkörper war entblößt. An der linken Seite seines Kopfes war ein Einschussloch zu sehen, ebenso mitten in der Brust."

Der 69-jährige Despot hatte seine letzte Festung Sirte in einem Konvoi von rund 80 Fahrzeugen verlassen wollen, als französische Kampfflugzeuge und eine US-Kampfdrohne angriffen und etliche Wagen zerstörten. Daraufhin hätten die Rebellen den gestoppten Konvoi angegriffen und Gaddafi herausgezerrt. Darüber, was dann geschah, gibt es mehrere Varianten. Ministerpräsident Dschibril behauptete, Gaddafi sei unverletzt gefasst worden, habe dann aber in einem Kreuzfeuer zwischen Rebellen und Regimetruppen einen Kopfschuss erhalten. Ali Aujali, Libyens Botschafter in den USA, berichtete, Gaddafi sei aus einem Abwasserrohr gezogen worden, in das er sich geflüchtet habe.

Videoaufnahmen zeigen, dass Gaddafi lebend gefangen genommen und von seinen Gegnern schwer misshandelt wurde. Kurze Zeit später war er tot. Wie die "New York Times" berichtete, hätten Forensiker anhand von Fotos der Einschusslöcher im Kopf erkannt, dass Gaddafi aus kürzester Distanz erschossen worden sein muss. Der US-Pathologe Michael Baden meinte: "Es sieht mehr nach einer Hinrichtung aus als nach etwas, das in einem Gefecht passierte." Nach einem Bericht des arabischen Senders al-Dschasira habe Gaddafi noch gerufen: "Erweist mir Gnade", sei aber mit einem Gewehrkolben zusammengeschlagen worden. Ein Arzt in Misrata sagte aus, der von ihm untersuchte Leichnam habe Einschusslöcher im Kopf und im Bauch aufgewiesen.

Außer Gaddafi sollen auch sein Sohn Muttassim, Geheimdienstchef Abdullah al-Senussi, Verteidigungsminister Abu Bakr Junis und 17 ehemalige Regimegrößen erschossen worden sein. Der zunächst ebenfalls totgesagte Gaddafi-Sohn Saif al-Islam soll am Freitag in Slitan östlich von Tripolis gefasst worden sein.

Bei allem Verständnis für die Wut der Rebellen auf den Diktator und seinen Anhang wäre es für Libyen ein schlechter Start, wenn die neue Führung ihre Herrschaft mit einer Lüge antreten würde. "Niemand wollte den Oberst (Gaddafi) lebend", um ihn an den Haager Gerichtshof auszuliefern, kommentierte die russische Zeitung "Moskowski Komsomolez".

Der Übergangsrat will nun zügig das neue Libyen aufbauen. An diesem Sonnabend soll offiziell das Ende des Regimes und der Beginn einer Übergangsphase auf dem Weg zu einem demokratischen Staat verkündet werden. Binnen 30 Tagen soll eine Übergangsregierung gebildet werden. Acht Monate später soll ein Nationalkongress einberufen werden, eine verfassunggebende Versammlung, die dann freie, demokratische Wahlen organisieren soll.

Experten zeigten sich jedoch skeptisch. So sagte Professor Udo Steinbach, früher Chef des Hamburger Orient-Instituts, mit dem Tod Gaddafis kehre nicht zwangsläufig Ruhe ein. Der zähe Widerstand der Gaddafi-Anhänger zeige vielmehr, dass sich die Libyer auf eine längere Phase gewalttätiger Auseinandersetzungen einstellen müssten.

Professor Fawaz Gerges, Nahost-Fachmann der London School of Economics, sagte gegenüber dem US-Sender CNN, die offenkundigen Spaltungen Libyens bezüglich Regionen und Stämmen könnten nach Gaddafis Tod nun leicht eskalieren. Zu den in der Libyschen Nationalen Befreiungsarmee zusammengeschlossenen Einheiten zählen etliche Brigaden aus militanten Radikalislamisten, die sich einer Demokratisierung nach westlichem Vorbild entgegenstemmen dürften. Zu den starken Männern des neuen Libyen zählt auch Ex-Taliban-Kämpfer und Radikalislamist Abdelhakim Belhadj, derzeit Militärkommandeur von Tripolis.

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Der Experte Christopher Chivvis von der US-Denkfabrik Rand Corporation meinte, ein politischer Konsens in Libyen müsste nicht nur die Führungsebene der Rebellen umfassen, sondern auch noch sicherstellen, dass die vielen kriminellen Banden nun nicht Zugriff auf die überall zirkulierenden Kriegswaffen bekämen. Auch Steinbach meinte, das Wichtigste sei zunächst, "die Menschen zu entwaffnen und einen verlässlichen Sicherheitsapparat aufzubauen". Die Nato jedenfalls will ihren Militäreinsatz innerhalb von zwei Wochen herunterfahren.

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