Tunis. Tunesien als Pionierstaat des arabischen Frühlings nimmt mit der Wahl an diesem Sonntag einen weiteren großen Schritt in Richtung Demokratie. Die Bürger sind aufgerufen, eine verfassunggebende Versammlung zu bestimmen, die im Laufe eines Jahres das Grundgesetz für die über zehn Millionen Einwohner ausarbeiten soll. Um die 218 Sitze bewerben sich über 10 000 Kandidaten. Mehr als 100 Parteien beteiligen sich an der ersten freien Abstimmung im Land, die nicht nur in der Region aufmerksam verfolgt wird.

Auch die 80 000 in Deutschland lebenden Tunesier können sich beteiligen: Die deutschen Behörden haben 15 Wahllokale eingerichtet. Außenminister Guido Westerwelle rief die Tunesier zur Teilnahme an der Wahl auf. "Das ist ein Meilenstein in der Geschichte des Landes und zugleich ein Lackmustest für die junge tunesische Demokratie", sagte er. Wenn die Wahl frei und fair verlaufe, könne das Land erneut zum Vorbild für die gesamte Region werden.

Die Euphorie des Anfangs, als fast das ganze Land einig war im Kampf gegen den autokratischen Machthaber Zine al-Abidine Ben Ali, ist der Ernüchterung gewichen. Neue Konflikte sind ausgebrochen. Vor allem Islamisten versuchen eine Weichenstellung für einen religiös orientierten Staat zu erzwingen. Die Salafisten als Anhänger eines besonders orthodoxen Islam stellen nur eine lautstarke Minderheit dar. Die größten Chancen werden bei der Wahl der Ennahda eingeräumt, einer moderat islamischen Partei. Am Mittwoch drohte die Partei mit massiven Protesten, falls es Wahlbetrug geben sollte.

Ein Sieg islamistischer Kräfte würde einen Wandel der tunesischen Gesellschaft nach sich ziehen. Das Land gilt als das weltlichste unter denen des arabischen Frühlings. In Bars wird Alkohol verkauft, viele Frauen bedecken ihre Köpfe nicht, und knapp bekleidete Touristen können unbehelligt an den Stränden liegen. Tunesier selbst bezeichnen diese Lebensart als "Islam Light", zu Deutsch also eine Art abgespeckter Islam. Der Aufstand in Tunesien war die Initialzündung für den arabischen Frühling, der bislang den ägyptischen Herrscher Husni Mubarak und den libyschen Potentaten Muammar al-Gaddafi gestürzt hat.