Anleger sind verunsichert über Folgen des Atomunglücks. Nikkei-Index verliert massiv, DAX deutlich. Markt für erneuerbare Energien profitiert

Hamburg. Die Folgen der Naturkatastrophe in Japan schlagen sich an den Börsen weltweit nieder. Der japanische Leitindex Nikkei sank gestern erneut massiv um 10,6 Prozent, nach sechs Prozent am Montag. Damit addieren sich die Kursverluste von insgesamt 700 Milliarden Dollar zum stärksten Rückgang seit Jahrzehnten. Der deutsche Leitindex DAX verlor zeitweise um 5,5 Prozent und sank zunächst unter die Marke von 6500 Punkten, erholte sich dann jedoch. Der Dow Jones in New York gab kurz nach Börsenbeginn um rund zwei Prozent nach. Japans Notenbank stellte den Geschäftsbanken des Landes gestern umgerechnet weitere 45 Milliarden Euro zur Verfügung, um deren Liquidität zu sichern.

Die Märkte zeigen sich in nervöser Verfassung, allerdings nicht in einer Stimmung der Panik wie auf dem Höhepunkt der Welt-Finanzmarktkrise nach dem Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers im September 2008. Verunsicherung herrscht darüber, welche Folgen die Erdbeben und der Tsunami vom vergangenen Wochenende, vor allem aber die bedrohliche Lage im havarierten Atomkraftwerk Fukushima nördlich von Tokio haben werden. "Alle stochern im Nebel, weil keiner weiß, wie lange sich die Ausnahmesituation in Japan noch hinziehen wird", sagte der Analyst Heinz-Gerd Sonnenschein von der Postbank. "Die Unsicherheit ist groß, also verkaufen die Anleger im Zweifel lieber." Tobias Basse von der NordLB sagte: "Das ist vor allem eine menschliche Katastrophe mit gigantischen Sorgen. Was an den Märkten passiert, ist nachvollziehbar."

Konjunkturprognosen für die deutsche Wirtschaft gaben unter dem Eindruck der Ereignisse in Japan nach. Das Barometer des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) sank für den März auf 14,1 Punkte gegenüber 15,7 Punkten im Vormonat. Das ZEW befragt dafür regelmäßig Finanzmarktexperten. Das Hamburgische Weltwirtschafts-Institut (HWWI) nahm seine Prognose für das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes in Deutschland - unabhängig der Ereignisse in Japan - für dieses Jahr von 2,5 auf 2,3 Prozent zurück. Für 2012 wird ein Wachstum von 1,7 Prozent erwartet.

Die Ökonomen versuchten gleichwohl, den wachsenden Pessimismus einzudämmen. "Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einer robusten Verfassung", sagte ZEW-Präsident Wolfgang Franz. "Allerdings können die tragischen Ereignisse in Japan zumindest kurzfristig eine Eintrübung der Konjunkturdynamik in Deutschland zur Folge haben." In der aktuellen Analyse des HWWI heißt es: "Die Naturkatastrophe in Japan beeinflusst die Konjunktur in Deutschland kaum." Dämpfend wirke eher der jüngste Anstieg der Ölpreise, bedingt auch durch den Bürgerkrieg im Förderland Libyen.

Verluste verzeichneten in Deutschland gestern alle 30 Titel der Unternehmen, die im Leitindex DAX notiert sind. Unter Druck gerieten Aktien deutscher Unternehmen, die unmittelbar mit den Folgen der Japankrise konfrontiert werden. Das gilt etwa für die deutschen Stromkonzerne E.on und RWE. Sie sind von der jüngsten Entscheidung der Bundesregierung betroffen, die sieben älteren deutschen Atomreaktoren vorerst vom Netz nehmen zu lassen.

Die Aktie der Lufthansa gab gestern um zeitweise mehr als sechs Prozent nach. Die Fluglinie hatte angekündigt, die japanische Hauptstadt Tokio wegen der Folgen der Katastrophe zunächst nicht mehr anzufliegen. Verbindungen aus Deutschland werden nach Osaka und Nagoya umgeleitet. Zu den besonders starken Verlierern im DAX zählten gestern auch die Deutsche Bank, der Industriegasehersteller Linde, der Lastwagen- und Motorenkonzern MAN sowie der Medizintechnikanbieter Fresenius Medical Care.

Aktien von Technologieanbietern aus dem Markt der erneuerbaren Energien legten hingegen kräftig zu. Der Kurs des führenden deutschen Solartechnikherstellers Solarworld stieg um zeitweise mehr als 23 Prozent. Das wirtschaftlich angeschlagene Hamburger Solarunternehmen Conergy verbuchte beim Aktienkurs vorübergehend fast 80 Prozent Zuwachs - allerdings nur auf einen Spitzenwert von rund 84 Cent.

Entscheidend für die weitere Entwicklung an den Finanzmärkten ist nun die Lage im Atomkraftwerk Fukushima. Von dort häuften sich gestern die Hinweise, dass aus den drei oder womöglich vier havarierten Reaktorblöcken massiv Radioaktivität austreten und vom Wind in den Großraum Tokio getragen werden könnte. "Wenn tatsächlich eine nukleare Katastrophe einer solchen Größenordnung hereinbräche, wäre das eine Zäsur, für die es kein historisches Vorbild gibt", sagte HWWI-Chef Thomas Straubhaar dem Abendblatt. Voraussagen darüber könne niemand machen.

Sollte Japan um den schlimmsten Fall in seinen Atomkraftwerken hingegen herumkommen, so Straubhaar, könnten die sonstigen Folgen der Naturkatastrophe für die Weltwirtschaft durchaus beherrschbar bleiben. Zwar sei Japan die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. In seinen Finanzströmen und mit seiner Struktur des Außenhandels sei das Land jedoch vergleichsweise stark zu sich selbst hin orientiert. So kämen nur rund 2,7 Prozent aller deutschen Einfuhren aus Japan, gut 1,4 Prozent der hiesigen Exporte gingen in den pazifischen Inselstaat, sagte der Wirtschaftswissenschaftler. "Das japanische Problem ist für Deutschland aus wirtschaftlicher Sicht geringer als etwa das griechische", sagte Straubhaar mit Blick auf die Schuldenkrise des EU-Mitgliedstaates.

"Japan kann als Exporteur für viele Güter, gerade im Bereich der Informationstechnologie und der höherwertigen Investitionsgüter, ausfallen", so Straubhaar. "Aber diese Lücke würden heutzutage Hersteller in anderen Ländern wie in Deutschland, Südkorea und zunehmend auch in China für sich nutzen."

Für die japanische Volkswirtschaft, die bereits vor der jüngsten Naturkatastrophe eine viele Jahre währende Schwächephase durchstehen musste, erwartet der HWWI-Chef eine weitere lange Zeit der Stagnation.