Für die ägyptischen Oppositionellen wäre Mubaraks Sturz erst der Anfang. Nahostexperte: In Jahrzehnten verkrustetes Regime muss ersetzt werden.

Millionen Menschen sind in den vergangenen Tagen in etlichen ägyptischen Städten auf die Straßen gegangen, in Kairo, Alexandria oder Ismailija, um den Rücktritt des seit 30 Jahren autokratisch herrschenden Staatspräsidenten Husni Mubarak zu fordern. Auch wenn sich der aus Wien eingereiste Friedensnobelpreisträger Mohammed al-Baradei bereits als Führer einer Oppositionsregierung anbietet, bleiben die Strukturen der ägyptischen Opposition diffus.

Da gibt es etwa die Jugendbewegung "6. April", die ihre Anhänger anfangs vor allem über Twitter und Facebook mobilisiert hat. Bekannter und als Einzige gut organisiert sind dagegen die einflussreichen Muslimbrüder unter ihrem Führer Mohammed Badie. Ihr Wählerpotenzial wird auf bis zu 30 Prozent geschätzt. In Israel fürchtet man, diese Gruppierung, deren Positionen von gemäßigt-pragmatisch bis militant-islamistisch reichen, könnte gar an die Macht gelangen.

Eine organisierte demokratische Opposition mit starken Führerfiguren gibt es derzeit jedoch nicht - Präsident Mubarak hat sie systematisch zerschlagen. Vizepräsident Omar Suleiman, der jetzt von Mubarak mit Reformen beauftragt wurde, ist als langjähriger Geheimdienstchef ebenso ein Mann des Systems wie der frühere Außenminister und Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Mussa - und damit allenfalls für den Übergang geeignet.

Wie soll es nun weitergehen? "Das Problem ist, zunächst einmal eine nationale Versammlung zu schaffen, die in der Lage ist, das Land durch die derzeitigen Stürme zu lotsen", sagte der Experte Mamdouh Habashi gestern in einem Telefongespräch mit dem Abendblatt aus Kairo.

Der Ägypter ist Vorstandsmitglied der 1987 gegründeten Forschungseinrichtung Arab & African Research Center sowie Vizepräsident des World Forum for Alternatives - eines im Senegal beheimateten Netzwerkes von rund 70 Denkfabriken.

Als Folge der langen Diktatur gebe es in Ägypten eine grobe Einteilung in legale Parteien und in illegale politische Kräfte, sagt Habashi. "Die legalen Parteien sind die sogenannten gezähmten Parteien, die vorgeblich oppositionell waren, aber nie viel ausrichteten. Das ist eine Entwicklung, die unter Anwar al-Sadat, dem 1981 ermordeten Präsidenten und Vorgänger Mubaraks, eingeleitet wurde, um einen Übergang zu schaffen vom Einparteiensystem Präsident Gamal Abd al-Nassers zu einem Mehrparteiensystem."

Sadat habe 1976 einfach innerhalb dieser einen Partei verschiedene politisch ausgerichtete Fraktionen ausgegliedert - eine links, eine rechts und eine in der Mitte. Diese arbeiteten dann ein Jahr lang als politische Plattformen und wurden zu eigenständigen Parteien. Sie existieren bis heute.

Habashi ist überzeugt, dass sich nichts geändert hätte, wenn Sadat weiter an der Macht geblieben wäre. "Ein System ist ein System - unabhängig von Personen. Hier herrschen Klassen." Die Personen seien austauschbar.

"Diese legalen Parteien wurden nun durch die Revolution einfach beiseitegefegt. Sie nennen sich liberal, nationalistisch oder links, sind aber allesamt vollkommen harmlos. Es war genau diese Harmlosigkeit und Machtlosigkeit, die überhaupt dazu führte, dass in den Menschen die Verdrossenheit und der Wunsch immer stärker wurden, Einfluss auf den politischen Prozess zu nehmen. Denn die natürlichen Wege, ihre Interessen in dieser Gesellschaft zu vertreten, wurden immer verstopfter." Dann gebe es andere, nicht legale politische Kräfte wie die Muslimbrüder und diverse Linksgruppen, ferner Gruppierungen, die zwar eine Lizenz als Partei beantragt haben, diese aber nicht erhalten haben - wie die Nasseristen, Islamisten und andere.

"Sie existieren als politische Kräfte, obwohl sie keine Legalität von der Regierung zugebilligt bekommen haben", sagt Mamdouh Habashi. Daneben gibt es in Ägypten noch die Organisationen der Zivilgesellschaft, die unter einer Diktatur eine wichtige Ventilfunktion übernehmen - weil die Menschen eben ihre politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen vertreten sehen wollen. "In Zeiten, in denen die politischen Parteien keine effektive Rolle spielen, springen derartige Organisationen ein und bilden einen Ersatz." Das seien zum Beispiel Berufsgenossenschaften, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und andere.

Al-Baradei, den früheren Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA in Wien, hält Habashi nicht für den kommenden starken Mann der Opposition. "Al-Baradei ist eine gute Person, aber keine Führerpersönlichkeit", betont der Experte. "Er ist Diplomat mit aristokratischer Herkunft, hat mehr als sein halbes Leben im Ausland zugebracht. Er war natürlich eine internationale Größe - aber er ist viel zu wenig verankert im ägyptischen Volk."

Habashi will dennoch nicht ausschließen, dass al-Baradei durchaus eine politische Rolle spielen könnte. "Ich persönlich hätte nichts dagegen, jedenfalls im Augenblick. Aber wir reden hier von einer Übergangsphase."

Zunächst müsse die Revolution ihr erstes Ziel erreichen - das habe sie nämlich noch nicht: den Sturz des Regimes. Wohlgemerkt: des Regimes, nicht nur Mubaraks. "Natürlich hat die ganze Welt gesehen: Für Mubarak ist der Zug längst abgefahren; er muss jetzt gehen - und nicht zu einem Zeitpunkt, den er bestimmt." Doch das sei erst der Anfang - und keineswegs das Ende der Revolution. "Sie geht danach in einen langen Prozess über, den Prozess der Veränderung. Und dann geht es um den Sturz des ganzen Regimes. Denn Mubarak ist nicht das Regime - so wenig, wie es Sadat war. Er wurde ermordet, das Regime aber überlebte."

Die Menschen in Ägypten wüssten um diese Differenzierung sehr genau. "Ich bin außerordentlich beeindruckt von dem hohen Maß an politischem Bewusstsein, das in der Protestszene vorherrscht", sagt Habashi. "Die Menschen sehen das alles kristallklar."

Ungeachtet ihrer politischen und ideologischen Gegensätze haben sich die Oppositionellen zunächst einmal auf das Ziel geeinigt, Mubarak zu stürzen. Niemand wagt es, in diese solidarische Stimmung einen Misston zu bringen. "Dann aber werden die Probleme beginnen", warnt der Ägypter. "Man will eine nationale Versammlung etablieren, in der alle politischen Kräfte vertreten sind, die nicht mit dem alten Regime zu tun hatten. In dieser Versammlung sollten die vier verschiedenen Blöcke gleich stark vertreten sein: die Liberalen, die Nationalisten, die Islamisten und die Linken." Zudem gebe es eben noch die anderen, zivilgesellschaftlichen Gruppen, darunter dann wohl auch neue, unabhängige Gewerkschaften. Obendrein gibt es noch eine Reihe von unabhängigen Persönlichkeiten, die auch mit einbezogen werden müssen - zum Beispiel al-Baradei. "In dieser nationalen Versammlung müssten die jungen Leute Ägyptens mit mindestens 30 Prozent vertreten sein - denn sie haben diese Revolution schließlich organisiert."

Im Moment gibt es lediglich den Konsens, Mubarak zu stürzen. Doch wenn es gelinge, eine solche Versammlung auf die Beine zu stellen, dann könnte diese ein Gremium wählen, das mit den Machthabern in Kairo verhandelt. Die Gespräche dazu laufen zwischen den unterschiedlichen Kräften derzeit auf Hochtouren. Zur Rolle des Militärs, aus dessen Reihen seit dem Sturz der Monarchie 1952 noch jedes Staatsoberhaupt gekommen sei, betont Habashi: "Selbst wenn einige Generale natürlich zum Regime gezählt werden müssen: Armee und Regime - das sind zwei Paar Schuhe."