Schlägertrupps sollen Demonstranten in Kairo vertreiben - die Lebensmittel werden knapp

Die blonde Fotografin ist völlig überrumpelt, als sich auf einer Straße neben dem Tahrir-Platz plötzlich eine Gruppe von Anhängern der Regierungspartei NDP auf sie stürzt und ihr die Kamera aus der Hand reißen will. Mitglieder einer Bürgerwehr aus dem Viertel kommen ihr zu Hilfe. Sie zerren sie in eine kleine Nebenstraße und bringen sie in Sicherheit.

Nachdem am Dienstag noch Freudenfeste in Kairo gefeiert wurden, ist die Gewalt gestern eskaliert. Die Anhänger der Nationaldemokratischen Partei haben es nicht nur auf ausländische Journalisten abgesehen, sondern versuchen immer wieder, die Mubarak-Gegner vom Tahrir-Platz zu vertreiben. Plötzlich galoppieren Dutzende von Männern mit Pferden und Kamelen auf den Platz, hinein in die Menge der Demonstranten. Mit Stöcken und Eisenstangen schlagen sie auf Köpfe. Hunderte werden verletzt. Die Demonstranten im Zentrum weichen aber nicht.

"Es war wie ein Kavallerieangriff mitten in der Stadt", sagt ARD-Hörfunkreporter Martin Durm, der auf dem Platz beschimpft wird. Er und die ARD-Korrespondentin Esther Saoub räumen später sogar ihr Büro am Nil-Ufer. Schläger versuchen, in das Gebäude einzudringen, in dem auch der Nachrichtensender al-Arabija sein Studio hat.

Offenbar hat das Regime seine letzten Kohorten mobilisiert und bezahlte Schlägertrupps und Polizisten in Zivil auf die Plätze geschickt. Zunächst bewachen Soldaten den Tahrir-Platz und versuchen die Kontrahenten zu trennen. Schließlich verschanzen sie sich in ihren Schützenpanzern. Auch in Alexandria kommt es nach Berichten des Senders al-Dschasira zu Straßenschlachten.

"Bis gestern Morgen verliefen noch alle Demonstrationen friedlich. Sie erinnerten mich an die Montagsdemonstrationen vor der deutschen Wiedervereinigung", berichtet Rainer Herret, Geschäftsführer der Deutsch-Arabischen Industrie- und Handelskammer in Kairo, dem Abendblatt am Telefon. Doch seit den Mittagsstunden sei die Lage eskaliert, als Polizisten in Zivil die Demonstranten provozierten. "Es wird jetzt gefährlich", berichtet Herret.

Herret, der seit drei Jahren in Kairo lebt, arbeitet derzeit von seiner Privatwohnung aus, etwa drei Kilometer Luftlinie vom Tahrir-Platz entfernt. Dort sei die Lage ruhig. Das Büro der deutschen Auslandshandelskammer ist seit einer Woche geschlossen. Das Internet sei gestern nach sechs Tagen erstmals wieder zugänglich gewesen, sagt Herret.

Die rund 80 deutschen Unternehmen, die in Ägypten tätig sind, haben ihre Mitarbeiter bereits seit dem Wochenende ausgeflogen, berichtet Herret. Dazu zählen nicht nur große Konzerne wie Daimler, Siemens und BMW, sondern auch 90 Beschäftigte des Hamburger Unternehmens RWE Dea und 20 Mitarbeiter des Germanischen Lloyd und deren Familienangehörigen.

"Alle Firmen sind landesweit geschlossen", sagt Herret. Niemand gehe mehr zur Arbeit. "Viele Einwohner bilden nachts eine Bürgerwehr. Sie müssen ihre Häuser und Villen verteidigen, da vielerorts Polizisten in Zivil gezielt Privathäuser angreifen, um Panik zu stiften."

Herret, der am Vormittag selbst auf einer Demonstration war, fühlt sich noch sicher. Die wirtschaftliche Lage spitze sich aber weiter zu. "Langsam werden die Lebensmittel knapp", sagt Herret. In Kairo seien zahlreiche Supermärkte geplündert worden. Auch Benzin werde teurer. Zwar sei der Suezkanal offen, "aber in den Häfen werden keine Schiffe mehr abgefertigt". Damit kommen keine Waren mehr ins Land. Der 54-Jährige möchte weiterhin in Kairo bleiben: "Ich habe große Sympathie für jene, die für die Freiheit eintreten", sagt er. Aber die Bevölkerung zahle einen hohen Preis dafür.

Die ägyptischen Streitkräfte haben gestern vergeblich an die Bevölkerung appelliert, die Proteste "aus Liebe zu Ägypten" zu beenden. Ein Militärsprecher sagte im Staatsfernsehen, die Forderungen der Jugend und die Botschaft der Demonstranten seien angekommen. Jetzt müsse das normale Leben im Land wiederhergestellt werden.

Mubarak hatte am Dienstagabend erklärt, er werde bei der Präsidentenwahl im Herbst nicht mehr antreten. Die versprochene Verfassungsreform solle binnen 70 Tagen abgeschlossen sein, meldete das Staatsfernsehen gestern. Dabei geht es vor allem um einen Paragrafen, der es unabhängigen Kandidaten praktisch unmöglich macht, für das Amt des Präsidenten anzutreten.

Aber das ist den Demonstranten nicht genug. Tausende Menschen tragen selbst gemalte Plakate, auf denen "Verschwinde!" und "Los, Husni, geh" steht. "Wie immer hört er nicht auf sein Volk", sagte Mohammed al-Baradei, Führer der Bewegung "Change", gestern im Staatsfernsehen. Mubarak müsse bis morgen zurücktreten.

Auch der Sprecher der Muslimbrüder, Mohammed Mursi, betont, Mubaraks Zugeständnisse kämen zu spät. "Wir setzen die Proteste fort, bis unsere Forderungen erfüllt sind und bis Mubarak zurückgetreten ist", sagte ein Sprecher der Jugendbewegung "6. April".