Mit der Verschärfung des Stabilitätspaktes erreicht Merkel beim EU-Gipfel Änderungen des Lissabon-Vertrages. Die Kraftprobe geht weiter.

Brüssel. Es war ein Duell zwischen zwei Franzosen. Aber Kanzlerin Merkel wird es niemals vergessen. "Wir müssen aufpassen, dass all diese Diskussionen über die Beteiligung von privaten Gläubigern am Rettungsschirm nicht zu Unruhe auf den Märkten führen", sagt Jean-Claude Trichet, der Chef der Europäischen Zentralbank, beim Treffen der EU-Regierungschefs in Brüssel. Es ist kurz vor neun Uhr am Donnerstagabend, die livrierten Ober warten seit einer Stunde darauf, das Dinner im siebten Stock des Brüsseler Ratsgebäudes aufzutragen. Gnocchi mit Trüffeln und Wolfsbarsch stehen auf der Menükarte.

Bevor sich die 27 Staats- und Regierungschefs endlich zu Tisch setzen, bekommt Trichet eine klare Antwort. "Wir treffen die Entscheidungen. Und wir müssen diese Entscheidungen vor den Menschen vertreten - und nicht Sie", sagt Nicolas Sarkozy, Frankreichs Staatspräsident, mit scharfer Stimme.

Schweigen im Sitzungssaal, Bundeskanzlerin Angela Merkel nickt kurz. Es ist ein entscheidender Moment: Sarkozy hat für die deutsche Kanzlerin gekämpft. Merkel weiß in diesem Moment: Sie kann sich heute auf den Franzosen, den sie eigentlich für unberechenbar und launenhaft hält, verlassen.

Das war wichtig. Monatelang hatte die Kanzlerin gepredigt: Wir brauchen für einen dauerhaften Milliarden-Rettungsschirm für Pleiteländer Vertragsänderungen und eine Beteiligung von privaten Gläubigern, um die Steuerzahler zu entlasten. Einen zweiten Fall Griechenland, Merkels Albtraum, sollte es nicht geben.

Aber die Kanzlerin stieß auf taube Ohren. Die Wand, vor die sie lief, wurde immer höher, von Monat zu Monat. Kein Regierungschef in Europa wollte eine erneute Änderung des EU-Vertrags riskieren. Aber Merkel hatte nur ein Ziel: die Änderung des EU-Vertrags. Diese war nötig, damit die Richter beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe künftige Milliarden-Hilfen für Pleiteländer nicht als rechtswidrig einstufen. Das wäre das Ende ihrer Kanzlerschaft.

Angela Merkel war bereit, jeden Preis zu zahlen. Sie war auch bereit, Paris ins Boot zu holen. Das Spiel lautete: Merkel und Sarkozy gegen alle. Die gemeinsame Linie der beiden: Paris stimmt Vertragsänderungen und einem Stimmrechtsentzug für Defizitsünder zu, Berlin verzichtet im Gegenzug auf automatische Sanktionen bei einer Verletzung des Stabilitätspaktes. Es war ein Alleingang, es war ein Überraschungscoup, aber es war Merkels einzige Chance: Sie musste zusammen mit Sarkozy alle überrumpeln, um die Wand zum Einsturz zu bringen.

Die EU-Regierungschefs fühlten sich übergangen. "Das ist schlicht schlechter Stil", fauchte Luxemburgs Jean-Claude Juncker. Andere sprachen von einem "deutsch-französischen Direktorat". Der Unmut war stärker, als Merkel erwartet hatte. Und sie lernte schnell: Eine Aussetzung der Stimmrechte als Strafe für Defizitsünder würde es nicht geben. "Das ist nicht realistisch, das ist nicht akzeptabel", sagte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Damit war die Diskussion erledigt.

Merkel hätte den Stimmrechtsentzug bei schweren Regelverstößen gegen den Stabilitätspakt gern gehabt, sie hätte sich noch mehr als "Eiserne Lady" inszenieren können, die harte Strafen für Sünder durchsetzt. Aber das Thema lag ihr nicht wirklich am Herzen. Sie wollte die Änderung des EU-Vertrages von Lissabon. Und bekam sie.

Die nun beschlossene Reform der Eurozone soll den Umgang mit Krisenfällen wie Griechenland regeln und zudem verhindern, dass Euro-Länder in diese Lage geraten. Drei Punkte stehen im Zentrum: Mit der Verschärfung des Stabilitätspaktes können künftig Geldstrafen schon anfallen, wenn die Neuverschuldung unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt, ein Land aber zu wenig tut, um einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen. Außerdem wird künftig auch eine zu hohe Gesamtverschuldung bestraft. Die Hürden sind allerdings hoch.

Eine engere Abstimmung der Wirtschaftspolitik soll die Einhaltung der Kriterien sichern. So sollen die Euro-Länder einander schon vorab über ihre Haushaltspolitik informieren.

Außerdem soll ein Milliarden-Rettungsschirm Staatspleiten verhindern, was im Fall Griechenlands nur durch direkte Zahlungen der EU-Länder möglich war. Auf Drängen Merkels sollen dabei künftig auch Banken und nicht nur der Steuerzahler haften. Den Schirm soll eine "begrenzte Vertragsänderung" ermöglichen, die keiner Volksentscheide bedürfte. Dabei soll "präzisiert" werden, dass Finanzhilfen für Länder in Not nicht nur bei Naturkatastrophen erlaubt sind, sondern auch, wenn der Euro bedroht ist.Vor allem der britische Premier David Cameron hatte Bedenken gegen die Reform. Merkel konnte ihn aber überzeugen, auch indem sie Cameron in seinem Kampf gegen mehr Mittel für die EU beistand.

Am Ende zog Schwedens Ministerpräsident Frederik Reinfeldt Bilanz: "Wir sind nicht rundum glücklich damit, aber wir wollen uns Frankreich und Deutschland auch nicht widersetzen", sagte Schwedens Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt. Noch ist noch unklar, wie die Vertragsänderung genau aussehen wird, wie der neue Rettungsschirm funktionieren soll und wie die privaten Gläubiger bei der Haftung einbezogen werden. Aber fest steht: All dies wird bis zum nächsten Gipfel im Dezember geklärt. Die Kraftprobe geht weiter.