Nach der Auszeichnung des chinesischen Bürgerrechtlers Liu Xiaobo wurde seine Frau Liu Xia zur Abreise aus Peking gezwungen.

Peking. Die Frau des chinesischen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo ist zur Abreise aus Peking gezwungen worden. Nach Berichten vom Sonnabend soll die Polizei Liu Xia in die 500 Kilometer von Peking entfernte Stadt Jinzhou im Nordosten des Landes gebracht haben. Dort sitzt der 54-jährige Bürgerrechtler Liu Xiaobo, der schon an den niedergeschlagenen Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 beteiligt war, im Gefängnis. Nach der Bekanntgabe des neuen Preisträgers am Freitag reagierte China unterdessen mit der Festnahme von Dutzenden Dissidenten.

Der Bürgerechtler Wang Jinbo, ein Freund der Familie, schrieb im Internetkurznachrichtendienst Twitter, Liu Xia sei „in Begleitung der Polizei“ unterwegs zum Gefängnis von Jinzhou. Er berief sich auf Liu Xias Bruder, der bei ihr sei. Sie sollten demnach am Sonnabend in Jinzhou ankommen. Liu Xias Handy war weiter ausgeschaltet. Andere Freunde sagten, sie wüssten nichts über ihren Verbleib.

„(Die Polizei) ist hier und wartet darauf, dass ich packe“, hatte der US-Sender Radio Free Asia Liu Xia am Freitagabend zitiert. Man habe ihr gesagt, sie solle nach Jinzhou gebracht werden, wo sie ihren Mann sehen könne. Sie fürchte aber, dass man sie außerhalb von Peking unter Hausarrest stellen wolle. Liu Xia hatte sich zuletzt am Donnerstag selbst auf Twitter gemeldet und geschrieben, die Polizei habe sie schon vor Bekanntgabe des Preises dazu bewegen wollen, nach Jinzhou zu reisen, was sie jedoch abgelehnt habe.

China hatte am Freitag empört auf die Entscheidung über die Vergabe des Nobelpreises reagiert und Liu Xiaobo als „Kriminellen“ bezeichnet. Die Regierung bestellte den norwegischen Botschafter ein. Auch der chinesische Vertreter in Oslo brachte den massiven Protest Pekings zum Ausdruck. Dabei seien Konsequenzen angedeutet worden, wie die Regierung in Oslo mitteilte.

Die Vergabe stieß im Westen auf große Zustimmung. Zahlreiche Regierungen, darunter die USA, forderten die Freilassung des Nobelträgers, der 2009 zu elf Jahren Haft verurteilt worden.Er saß bereits zuvor mehrfach im Gefängnis und gilt als führender Kopf der „Charta 08“, einem Aufruf für Demokratie und Menschenrechte in China.

Nach der Verkündung des Friedensnobelpreises hatten sich am Freitag rund 100 Anhänger vor der Wohnung der Ehefrau in Peking versammelt. Dutzenden Polizisten hinderten sie aber am Verlassen des Hauses. Mindestens 20 Aktivisten wurden bereits am Freitag festgenommen, mehrere weitere berichteten am Samstag, sie seien in Gewahrsam genommen oder unter Hausarrest gestellt worden. Darunter ist der Dissident Qi Zhiyong. Er sagte der dpa, er habe am Freitag seine Wohnung verlassen wollen, um die Preisverleihung mit anderen zu feiern, die Polizei habe ihn jedoch daran gehindert.

Der Menschenrechtsanwalt Tang Biao twitterte, die Polizei habe ihn am Samstag in ein Auto verfrachtet und weggebracht. Danach war Funkstille. Auch über Handy war er nicht mehr erreichbar. Auch zahlreiche andere Aktivisten beantworteten Mobilanrufe nicht mehr.

(dpa/abendblatt.de)

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"Wenn ich zu Pulver zermalmt werde, werde ich dich mit meiner Asche umarmen"

Von Hans-Jürgen Fink

3542 - diese Zahl markiert den Preis, den der neue Friedensnobelpreisträger, der chinesische Schriftsteller und Bürgerrechtler Liu Xiaobo von diesem Wochenende an noch zahlen soll, wenn das Urteil seiner Richter vollständig vollstreckt wird. 3542 Tage im Gefängnis. 3542 Tage, während der er abgeschnitten ist von seinen Freunden, seiner Frau Liu Xia. 3542 Tage Lebenszeit, die ihm geraubt werden, nur weil er auf einem Recht bestanden hat, das sogar in der chinesischen Verfassung garantiert wird: die Meinungsfreiheit. Liu wurde im Dezember 2008 aus seiner Wohnung abgeholt und sitzt seither - 2009 zu elf Jahren Haft verurteilt - hinter Gittern. Noch ist unklar, ob der Preisträger überhaupt schon weiß, was die fünf Juroren in Oslo am Freitag bekannt gaben. Liu erhält den mit 1,1 Millionen Euro dotierten Preis für seinen "langen und gewaltlosen Kampf für fundamentale Menschenrechte in China".

Das Nobelpreiskomitee bekam gestern gar keinen Kontakt zu Liu oder seiner in Peking lebenden Ehefrau, der Lyrikerin und Malerin Liu Xia. Es musste die chinesischen Behörden bitten, Liu über die Preisverleihung zu informieren. Liu Xias Wohnhaus wurde rigoros von Polizisten abgesperrt, man hatte sie sogar aufgefordert, die Stadt an diesem Tag zu verlassen - sie hat sich geweigert. So musste sie in ihrer Wohnung bleiben. Journalisten hatten telefonisch kurzen Kontakt zu ihr, sie sagte: "Ich stecke hier fest - mit der Polizei." Sie bekam Besuch von drei Sicherheitsleuten, ihr wurde erlaubt, an diesem Wochenende nach einer mehrstündigen Autofahrt zum Jinzhou-Gefängnis in der nordöstlichen Provinz Heilongjiang ihrem Mann von der Preisverleihung zu berichten. Eine Ausnahme von den Regularien für ihre vier bisherigen Besuche - da durften beide nur über Familienangelegenheiten sprechen.

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Immer wieder war der chinesische Dissident zum Kreis der engeren Favoriten gerechnet worden, und immer nervöser wurden die Versuche von chinesischen Offiziellen, das vom norwegischen Parlament gewählte, aber unabhängige Nobelpreiskomitee von der Verleihung abzubringen.

Jetzt, wo die Entscheidung gefallen ist, gab eine Sprecherin des Außenministeriums in Peking nur wortkarg bekannt, man habe sie "zur Kenntnis" genommen. Die chinesischen Behörden blockierten sogar die Satelliten-Live-Übertragung der Bekanntgabe des Preisträgers und seinen Namen in den einheimischen Suchmaschinen.

Kurz darauf rollte in vielen Ländern der Welt eine Welle von Glückwünschen für Liu Xiaobo los: Regierungen und Schriftsteller, Menschenrechtsorganisationen, Nobelpreisträger und Bürgerrechtler gratulierten öffentlich und fordern in einem vielstimmigen Chor die Freilassung von Liu, damit er den Preis am 10. Dezember selbst in Oslo entgegennehmen kann.

Derweil giftete Peking mit einer Erklärung dünnhäutig zurück, der 54-jährige Liu sei ein Krimineller, der wegen Gesetzesverstößen durch die chinesische Justiz verurteilt worden sei. "Die Vergabe durch das Nobelkomitee an solche Leute widerspricht völlig dem Ziel des Preises." Sie sei "eine Schmähung" des Friedensnobelpreises und werde den chinesisch-norwegischen Beziehungen schaden.

Dabei haben Chinas Machthaber auf diese Auszeichnung selbst am besten hingearbeitet. Ihr betonharter Unterdrückungskurs bringt beständig und seit vielen Jahren loyale Bürger des Landes dazu, sich mehr oder weniger offen auf die Seite der Dissidenten stellen.

Für Liu, 1955 in Changchun im Nordosten Chinas geboren, war die Initialzündung das bittere Erlebnis, gemeinsam mit seinem Vater im Gefolge der Kulturrevolution als "versklavtes Individuum" für drei Jahre in eine Volkskommune in die Innere Mongolei verschickt zu werden.

Liu wurde später Literaturkritiker und Philosophiedozent, er ist ein guter Kenner der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Nach seiner Dissertation ging er 1988 ins Ausland und arbeitete an den Universitäten in Oslo und Hawaii sowie an der Columbia University in New York. 1989 kehrte er aus den USA nach China zurück, um an der Seite der Studenten auf dem Tiananmen-Platz an deren letztem Hungerstreik teilzunehmen. Er bewegte damals noch viele Demonstranten, den Platz friedlich zu verlassen. Das Erlebnis der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung ließ sein Engagement politisch werden. Er wurde inhaftiert, und 1996 schickte man ihn für drei Jahre in ein Umerziehungslager, weil er in einem offenen Brief die Amtsenthebung des damaligen Präsidenten forderte.

Die elf Jahre Gefängnis, die er zurzeit verbüßt, bekam er, weil er mit anderen zur Propagandaschau der Olympischen Spiele 2008 in Peking die Charta 08 verfasste, die - angelehnt an die tschechische Charta 77 - in 19 Punkten die augenfälligsten Defizite der kommunistischen Ein-Parteien-Diktatur in China benennt und Meinungsfreiheit, Menschenrechte und eine demokratische Zivilgesellschaft fordert. Vielleicht fiel das Strafmaß im Dezember 2009 so drakonisch aus, weil Liu nicht nur das Internet nutzte, um das offizielle Publikationsverbot auszuhebeln, sondern weil die Charta 08 von vielen bekannten Intellektuellen, sogar im Staatsdienst, unterzeichnet wurde. An die 10 000 Unterzeichner sollen es am Ende gewesen sein - in China ein unerhörtes Ausmaß an Insubordination. Das macht Liu so gefährlich für die Regierung in Peking, und der Nobelpreis stärkt die Demokratiebewegung.

Brechen konnten die Unterdrücker Liu bisher nicht, an eine Abkehr von seinen politischen Forderungen glauben sie aber auch nicht mehr. Sie wissen: Irgendwann kommt ein Punkt, an dem die Seele so verzweifelt ist, dass der Wunsch nach Wahrheit und Veränderung jede Furcht besiegt. Dann steht das eigene Leben und Glück hintenan.

Freunde beschreiben Liu als sanften, friedliebenden Charakter. Er sei höchst moralisch, untadelig und habe ein sehr gut funktionierendes Gewissen, das ihn nie im Stich lässt. Er gehe sehr streng mit sich selbst ins Gericht und habe - ein "Extremidealist" - die Märtyrerrolle bewusst angenommen. Seine Frau sagt: "Liu geht es geistig vergleichsweise gut." Sie weiß aber, dass er ständig Magenprobleme hat wegen der Gefängniskost. Vielleicht erkennt die chinesische Regierung wenigstens darin die goldene Brücke und lässt ihn wegen Gesundheitsproblemen frei.

Liu Xiaobo überlebe in der Haft nur, sagt sein Freund, der Autor Liao Yiwu, weil ihn die Liebe zu seiner Frau stark macht. Die bitteren Liebesgedichte der beiden sind auf Chinesisch veröffentlicht. Und ein zentraler Satz Lius lautet: "Wenn ich zu Pulver zermalmt werde, werde ich dich mit meiner Asche umarmen."

Die Welt schaut auf Liu Xiaobo, zählt jeden Tag der Schande, den er noch im Gefängnis sitzt, und hofft darauf, dass China endlich einschwenkt auf einen rechtsstaatlichen, demokratischen Weg, der ihm seinen Platz in der Völkergemeinschaft sichert. Wirtschaftliche Macht ist nicht alles.