Laut dem chinesischen Webdienst von BBC ist die verschwundene Frau des Preisträgers Liu Xiaobo auf dem Weg zu ihrem inhaftierten Mann.

Einen Tag nach der Vergabe des Friedensnobelpreises an den chinesischen Publizisten Liu Xiaobo ist die Lage unter Chinas Dissidenten gespannt. „Vor meinem Gebäude stehen Sicherheitsbeamte Wache und folgen mir wenn ich aus dem Haus gehe“, sagte der Journalist Wang Guangze, Mitunterzeichner des politischen Pamphlets „Charta 08“. Liu gilt als Mitverfasser der „Charta“ und Brückenbauer innerhalb der chinesischen Menschenrechtsbewegung.

Die Beamten hätten ihn auch gewarnt, an Feiern zur Auszeichnung Lius teilzunehmen, so Wang. Das überseechinesische Webplattform „Weiquanwang“ nannte am Sonnabend über den Webdienst „Twitter“ die Namen von 17 Aktivisten, die sich noch in Polizeigewahrsam befinden. Andere, darunter die Bloggerin Liu Di und der Rechtswissenschaftler Fan Yafeng, berichteten, dass sie unter Hausarrest stünden. Bereits am Freitag hatten mehrere Aktivisten über „Twitter“ von vorübergehenden Festnahmen und Verhören auf lokalen Polizeirevieren berichtet.

Nach Meldungen des chinesischen Webdienstes von BBC am Sonnabend war Liu Xiaobos Frau Liu Xia am Vormittag mit Polizeigeleit auf dem Weg zum Gefängnis ihres Mannes in der nordöstlichen Stadt Jinzhou. Sie werde ihn fest umarmen und sagen „Du hast den Preis bekommen“, sagte sie laut BBC. Neben Freude werde ihr Mann auch etwas Druck verspüren, vermutete sie. Denn der Preis bedeute auch eine noch größere Verantwortung. Ein fernmündlicher Kontakt zu Liu Xia ist weiterhin nicht möglich. Ihre Handynummer sei „nicht mehr gültig“, so eine Ansage nach dem Wählen der Nummer.

(dpa/abendblatt.de)

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"Wenn ich zu Pulver zermalmt werde, werde ich dich mit meiner Asche umarmen"

Von Hans-Jürgen Fink

3542 - diese Zahl markiert den Preis, den der neue Friedensnobelpreisträger, der chinesische Schriftsteller und Bürgerrechtler Liu Xiaobo von diesem Wochenende an noch zahlen soll, wenn das Urteil seiner Richter vollständig vollstreckt wird. 3542 Tage im Gefängnis. 3542 Tage, während der er abgeschnitten ist von seinen Freunden, seiner Frau Liu Xia. 3542 Tage Lebenszeit, die ihm geraubt werden, nur weil er auf einem Recht bestanden hat, das sogar in der chinesischen Verfassung garantiert wird: die Meinungsfreiheit. Liu wurde im Dezember 2008 aus seiner Wohnung abgeholt und sitzt seither - 2009 zu elf Jahren Haft verurteilt - hinter Gittern. Noch ist unklar, ob der Preisträger überhaupt schon weiß, was die fünf Juroren in Oslo am Freitag bekannt gaben. Liu erhält den mit 1,1 Millionen Euro dotierten Preis für seinen "langen und gewaltlosen Kampf für fundamentale Menschenrechte in China".

Das Nobelpreiskomitee bekam gestern gar keinen Kontakt zu Liu oder seiner in Peking lebenden Ehefrau, der Lyrikerin und Malerin Liu Xia. Es musste die chinesischen Behörden bitten, Liu über die Preisverleihung zu informieren. Liu Xias Wohnhaus wurde rigoros von Polizisten abgesperrt, man hatte sie sogar aufgefordert, die Stadt an diesem Tag zu verlassen - sie hat sich geweigert. So musste sie in ihrer Wohnung bleiben. Journalisten hatten telefonisch kurzen Kontakt zu ihr, sie sagte: "Ich stecke hier fest - mit der Polizei." Sie bekam Besuch von drei Sicherheitsleuten, ihr wurde erlaubt, an diesem Wochenende nach einer mehrstündigen Autofahrt zum Jinzhou-Gefängnis in der nordöstlichen Provinz Heilongjiang ihrem Mann von der Preisverleihung zu berichten. Eine Ausnahme von den Regularien für ihre vier bisherigen Besuche - da durften beide nur über Familienangelegenheiten sprechen.

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Immer wieder war der chinesische Dissident zum Kreis der engeren Favoriten gerechnet worden, und immer nervöser wurden die Versuche von chinesischen Offiziellen, das vom norwegischen Parlament gewählte, aber unabhängige Nobelpreiskomitee von der Verleihung abzubringen.

Jetzt, wo die Entscheidung gefallen ist, gab eine Sprecherin des Außenministeriums in Peking nur wortkarg bekannt, man habe sie "zur Kenntnis" genommen. Die chinesischen Behörden blockierten sogar die Satelliten-Live-Übertragung der Bekanntgabe des Preisträgers und seinen Namen in den einheimischen Suchmaschinen.

Kurz darauf rollte in vielen Ländern der Welt eine Welle von Glückwünschen für Liu Xiaobo los: Regierungen und Schriftsteller, Menschenrechtsorganisationen, Nobelpreisträger und Bürgerrechtler gratulierten öffentlich und fordern in einem vielstimmigen Chor die Freilassung von Liu, damit er den Preis am 10. Dezember selbst in Oslo entgegennehmen kann.

Derweil giftete Peking mit einer Erklärung dünnhäutig zurück, der 54-jährige Liu sei ein Krimineller, der wegen Gesetzesverstößen durch die chinesische Justiz verurteilt worden sei. "Die Vergabe durch das Nobelkomitee an solche Leute widerspricht völlig dem Ziel des Preises." Sie sei "eine Schmähung" des Friedensnobelpreises und werde den chinesisch-norwegischen Beziehungen schaden.

Dabei haben Chinas Machthaber auf diese Auszeichnung selbst am besten hingearbeitet. Ihr betonharter Unterdrückungskurs bringt beständig und seit vielen Jahren loyale Bürger des Landes dazu, sich mehr oder weniger offen auf die Seite der Dissidenten stellen.

Für Liu, 1955 in Changchun im Nordosten Chinas geboren, war die Initialzündung das bittere Erlebnis, gemeinsam mit seinem Vater im Gefolge der Kulturrevolution als "versklavtes Individuum" für drei Jahre in eine Volkskommune in die Innere Mongolei verschickt zu werden.

Liu wurde später Literaturkritiker und Philosophiedozent, er ist ein guter Kenner der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Nach seiner Dissertation ging er 1988 ins Ausland und arbeitete an den Universitäten in Oslo und Hawaii sowie an der Columbia University in New York. 1989 kehrte er aus den USA nach China zurück, um an der Seite der Studenten auf dem Tiananmen-Platz an deren letztem Hungerstreik teilzunehmen. Er bewegte damals noch viele Demonstranten, den Platz friedlich zu verlassen. Das Erlebnis der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung ließ sein Engagement politisch werden. Er wurde inhaftiert, und 1996 schickte man ihn für drei Jahre in ein Umerziehungslager, weil er in einem offenen Brief die Amtsenthebung des damaligen Präsidenten forderte.

Die elf Jahre Gefängnis, die er zurzeit verbüßt, bekam er, weil er mit anderen zur Propagandaschau der Olympischen Spiele 2008 in Peking die Charta 08 verfasste, die - angelehnt an die tschechische Charta 77 - in 19 Punkten die augenfälligsten Defizite der kommunistischen Ein-Parteien-Diktatur in China benennt und Meinungsfreiheit, Menschenrechte und eine demokratische Zivilgesellschaft fordert. Vielleicht fiel das Strafmaß im Dezember 2009 so drakonisch aus, weil Liu nicht nur das Internet nutzte, um das offizielle Publikationsverbot auszuhebeln, sondern weil die Charta 08 von vielen bekannten Intellektuellen, sogar im Staatsdienst, unterzeichnet wurde. An die 10 000 Unterzeichner sollen es am Ende gewesen sein - in China ein unerhörtes Ausmaß an Insubordination. Das macht Liu so gefährlich für die Regierung in Peking, und der Nobelpreis stärkt die Demokratiebewegung.

Brechen konnten die Unterdrücker Liu bisher nicht, an eine Abkehr von seinen politischen Forderungen glauben sie aber auch nicht mehr. Sie wissen: Irgendwann kommt ein Punkt, an dem die Seele so verzweifelt ist, dass der Wunsch nach Wahrheit und Veränderung jede Furcht besiegt. Dann steht das eigene Leben und Glück hintenan.

Freunde beschreiben Liu als sanften, friedliebenden Charakter. Er sei höchst moralisch, untadelig und habe ein sehr gut funktionierendes Gewissen, das ihn nie im Stich lässt. Er gehe sehr streng mit sich selbst ins Gericht und habe - ein "Extremidealist" - die Märtyrerrolle bewusst angenommen. Seine Frau sagt: "Liu geht es geistig vergleichsweise gut." Sie weiß aber, dass er ständig Magenprobleme hat wegen der Gefängniskost. Vielleicht erkennt die chinesische Regierung wenigstens darin die goldene Brücke und lässt ihn wegen Gesundheitsproblemen frei.

Liu Xiaobo überlebe in der Haft nur, sagt sein Freund, der Autor Liao Yiwu, weil ihn die Liebe zu seiner Frau stark macht. Die bitteren Liebesgedichte der beiden sind auf Chinesisch veröffentlicht. Und ein zentraler Satz Lius lautet: "Wenn ich zu Pulver zermalmt werde, werde ich dich mit meiner Asche umarmen."

Die Welt schaut auf Liu Xiaobo, zählt jeden Tag der Schande, den er noch im Gefängnis sitzt, und hofft darauf, dass China endlich einschwenkt auf einen rechtsstaatlichen, demokratischen Weg, der ihm seinen Platz in der Völkergemeinschaft sichert. Wirtschaftliche Macht ist nicht alles.