Militante Islamisten in Pakistan haben sich mit dem Kidnapping von Ausländern oder reichen Einheimischen neue Geldquellen erschlossen.

Hamburg. Es waren mindestens drei vermummte Bewaffnete, die in eine Büro- und Wohnanlage der Deutschen Welthungerhilfe in Multan in der nordpakistanischen Unruheprovinz Punjab eindrangen. Der einzige Wachmann war rasch überwältigt und gefesselt; dann wurden ein 70-jähriger Deutscher und ein 24-jähriger Italiener aus ihren Wohnungen gezerrt. Beide kümmerten sich in der Region um Opfer der verheerenden Flut von 2010.

Wochenlang blieb das Schicksal der Entführten völlig unklar, dann meldete sich ein Sprecher der radikalislamischen Taliban und verkündete, "unsere Brüder im Punjab" hätten die beiden Europäer am 20. Januar "ergriffen" und in das berüchtigte Stammesterritorium Nord-Waziristan an der Grenze zu Afghanistan gebracht. Sie sollen in der Hand der brutalen pakistanischen Taliban-Organisation Tehrik-e-Taliban Pakistan (TTP) sein. Waziristan gilt als Hochburg der Taliban und des Terrornetzwerks al-Qaida; die pakistanische Regierung hat hier wenig zu melden.

Zwar sind Entführungen in Pakistan seit Jahrhunderten an der Tagesordnung - knapp 500 pro Jahr werden vom Innenministerium in Islamabad eingeräumt; die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Schon immer haben sich Stämme und kriminelle Banden damit ein lukratives Zubrot verdient. Doch was sich in der jüngsten Zeit dramatisch verändert hat, ist der Anteil der Taliban. Sie haben inzwischen eine regelrechte Entführungsindustrie aufgebaut, mit deren Hilfe sie offenbar finanzielle Verluste durch die militärischen Schläge des US-Militärs ausgleichen wollen. Wie die "New York Times" berichtete, sind die Kidnapper in Stil einer Mafia organisiert. Die Taliban und al-Qaida bedienten sich dabei auch lokaler Krimineller. Dabei würden verschiedene Banden je nach Fähigkeiten für verschiedene Zwecke benutzt. Oft würden die Opfer über Monate sorgfältig ausgespäht, ihre Wohnungen und Arbeitsstätten überwacht, ihre Lebensgewohnheiten registriert. Beim Zugriff würden die Zielpersonen mit Injektionen von Betäubungsmitteln ruhiggestellt. Lösegeldforderungen würden via Skype erhoben. Die pakistanische Polizei hat Entführungslisten mit reichen oder einflussreichen Menschen gefunden. Das können Ausländer sein, aber auch Geschäftsleute, hohe Militärs und Führer von religiösen Minderheiten. So wurde Shabaz Taseer, Sohn des von einem ultraradikalen Muslim ermordeten Geschäftsmannes und Gouverneurs von Punjab, Salman Taseer, ebenso entführt wie ein früherer Viersterne-General, zwei Schweizer Touristen oder ein 70 Jahre alter US-Amerikaner.

Die finanzielle Standardforderung liegt zwischen einer halben Million und 2,2 Millionen Dollar; allerdings kommt am Ende oft nur rund ein Zehntel dieser Summen zur Auszahlung. Hinzu kommen politische Forderungen, etwa nach Freilassung von inhaftierten Terroristen. Als der Schwiegersohn des früheren pakistanischen Generalsstabschefs Tariq Majid vergangenes Jahr entführt wurde, lautete die Forderung auf 1,4 Millionen Dollar in bar und Freilassung von 153 Gefangenen. Die Kidnapper gehörten der militanten sunnitischen Gruppe Lashkar-e-Jhangvi an, die für zahlreiche Attentate und Anschläge mit Hunderten Todesopfern verantwortlich gemacht wird. Sie soll eng mit al-Qaida verbunden sein.

Sind gewöhnliche Kriminelle die Entführer, dauert es bis zur Freilassung der Geiseln meist nur einige Wochen; bei den Taliban sind es Monate. Falls sie nicht vorher ermordet werden. So schloss die US-Hilfsorganisation Mercy Corps 44 Büros in zwei pakistanischen Provinzen, nachdem die Taliban einen entführten Angestellten getötet hatten. Mercy Corps zahlte dem Vernehmen nach 250 000 Dollar, um weitere vier Entführte freizukaufen.

Die Situation der Opfer in ständiger Todesangst ist seelisch wie körperlich äußerst belastend, manchmal aber auch surreal. Ein Freigelassener berichtete, wie sich die Taliban in einem großen Kreis auf den Boden setzten und jeder ein möglichst lustiges Gesicht schnitt. Es galt, dabei eine ernste Miene zu bewahren. Irgendwann löste sich alles in brüllendes Gelächter auf. Die Geisel war gehalten, heiter mitzuspielen.

Ein anderer berichtete, dass ihn die Taliban mit einem Gartenschlauch auspeitschten, bevor sie ein Video mit ihm drehten. Danach entschuldigten sie sich, schickten nach Schmerzmitteln und rieben seine Wunden mit Olivenöl ein. Es wird auch berichtet, dass sich Taliban-Entführer mit Videos von Hinrichtungen gefangener pakistanischer Soldaten amüsierten.