Die Ausschreitungen reißen nicht ab. Seit dem Blutbad beim Fußballspiel in Port Said richtet sich der Zorn der Bevölkerung gegen die Polizei.

Kairo. Amr ist ein ganz normaler Polizist. Seit fünf Jahren versieht der 26-jährige Ägypter seinen Dienst als Ordnungshüter und wird an unterschiedlichen Orten eingesetzt. Polizist zu sein hat in Amurs Familie Tradition. Schon sein Großvater trug Polizeiuniform, sein Vater hat es immerhin zu zwei Sternen auf der Schulter gebracht. Nach seiner Ausbildung wurde Amr zunächst auf dem Sinai eingesetzt, Schmuggler aufzubringen. Auch an der Grenze zum Gazastreifen musste er schon Wache schieben. Wie alle Polizisten in Ägypten, konnte auch Amr nicht von dem mageren Sold leben und seine Frau und zwei Kinder versorgen. Er beschaffte sich kleine Nebenjobs. "Alles legal", wie er behauptet.

Doch seit einem Jahr ist alles anders. Als die Revolution begann, stellten sich die Polizisten nicht auf die Seite des Volkes, wie die Armee, sondern verteidigten das Regime, so wie sie es gelernt hatten. Ein Interessenkonflikt zwischen den Sicherheitskräften entstand. "Die Leute schrien uns an, spuckten auf uns", erzählt Amr, "wir waren die Bösen und die Soldaten die Guten." Die Folge: Die Polizisten verschwanden von der Bildfläche. Eine Woche lang war kein Ordnungshüter auf den Straßen Ägyptens mehr zu sehen. Es kam zu Plünderungen, Raubüberfällen, Diebstahl. Auch Polizeistationen wurden gestürmt und Waffen gestohlen.

"Das Gleiche passiert jetzt wieder", erzählt Amr aufgeregt und fährt mit der Hand über das müde Gesicht. Er hatte Nachtschicht in einer Polizeistation in Nasr City, in dem Stadtteil Kairos, wo das Mausoleum des 1981 ermordeten ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat liegt, als eine Gruppe junger Leute hereinstürzt. Seit dem Tod Sadats gilt in dem Land am Nil der Ausnahmezustand . Während der gesamten 30-jährigen Amtszeit seines Nachfolgers Husni Mubarak wurde er zu keiner Zeit aufgehoben. Die Notstandsgesetze erlaubten es den Ordnungshütern, Menschen festzunehmen, sie "hart anzufassen" und unbegrenzt ohne Anklage in Haft zu halten. Auch Amr machte davon Gebrauch, wie er zaghaft zugibt. Zum einjährigen Revolutionsjubiläum vergangene Woche versprach nun der regierende Militärrat, den Ausnahmezustand zu lockern. "Doch was bedeutet das?", fragt Amr unsicher. "Sie haben uns nicht gesagt, was wir dürfen und was nicht." Als die wütenden Demonstranten in Amrs Polizeistation vor ihm stehen, kann er gerade noch seine auf dem Tisch liegende Pistole in Sicherheit bringen. "Die wollten nach ihr greifen." Wer diese Eindringlinge waren, ist nicht eindeutig. Jedenfalls trugen sie keinen Ahly-Schal, wie die Anhänger des Fußballklubs, die am Tahrir-Platz derzeit zugange sind und die Betonblöcke zum Schutz des Innenministeriums zertrümmern. "Ich kann noch froh sein, dass ich nicht dort eingesetzt bin", seufzt Amr.

Seit dem Blutbad am Mittwoch beim Fußballspiel in Port Said, richtet sich der Zorn der Bevölkerung erneut gegen die Sicherheitskräfte. Aktivisten vermuten, dass die Krawalle, die 74 Menschen das Leben kosteten und fast 1000 verletzten, von bezahlten Schlägertrupps provoziert worden seien. Der Polizei, die beim Spiel für Ordnung hätte sorgen sollen, wird Untätigkeit vorgeworfen.

+++ Freitag des Zorns +++

Im ganzen Land gehen seitdem wieder Tausende auf die Straße und lassen ihrer Wut über die Ordnungshüter freien Lauf. Es gibt erneut Hunderte Verletzte. In der Kanalstadt Suez kam es zu den heftigsten Protesten. Wie schon zu Beginn der Revolution, wurden auch jetzt wieder die ersten Toten in Suez beerdigt. Ein Demonstrant soll in Kairo vor dem Innenministerium erschossen worden sein. Und die Wut steigt weiter an. Der Ruf nach der Ablösung des regierenden Militärrats, der die Misere zu verantworten habe, wird lauter. "Die Polizisten tun nichts", schreit eine Frau auf dem Tahrir-Platz in Kairo zur Begründung ihrer Forderung nach einer zivilen Regierung. "Seit Monaten stehen die rum und sehen oft tatenlos zu", ergänzt ihr Mann. Die Kriminalität habe ein erschreckendes Maß angenommen. Am Freitagnachmittag wird bekannt, dass zwei amerikanische Touristinnen auf dem Sinai entführt wurden. Einige Tage zuvor sind 25 chinesische Arbeiter ebenfalls auf dem Sinai gekidnappt worden, kurz darauf aber wieder freigekommen. "Manche geben uns die Schuld für die sich verschlechternde Sicherheitslage, weil wir die Revolution gemacht haben", klagt ein Aktivist vom Tahrir-Platz über das Versagen der Sicherheitskräfte. Laut einer Gallup-Umfrage vom Herbst letzten Jahres fühlen sich 40 Prozent der Ägypter extrem unsicher und trauen sich nachts nicht mehr auf die Straße.

+++ "Diese Leute sind furchtlos" +++

Doch die Unsicherheit ist auf beiden Seiten äquivalent. "Viele Polizisten finden, sie können ihren Dienst nicht richtig versehen, weil die Leute sie hassen", sagt Generalmajor Foud Allam, ehemaliger Stellvertreter der inzwischen aufgelösten Staatssicherheit. Die verschlechterte wirtschaftliche und soziale Lage führe zusätzlich zu mehr Kriminalität. Die Leute müssten die Polizei ermutigen, in diesen schwierigen Zeiten für Ordnung zu sorgen und sie nicht ständig anzugreifen. "Nicht alle Polizisten sind korrupt. Es gibt auch andere", sagt Allam. Man dürfe nicht vergessen, dass die Polizei Teil der Bevölkerung sei. Die Abschaffung von Allams Behörde war eine der Kardinalforderungen der Revolutionsbewegung, die die ägyptische Staatssicherheit (SSI) als repressiven Arm des Regimes für gravierende Menschenrechtsverletzungen verantwortlich macht. Nachfolger Mohammed Ibrahim, ebenfalls Generalmajor, hat eine Nachfolgeorganisation - Homeland Security Sector (HSS) - gegründet, die vor allem zur Abwehr von Terrorismus und Spionage agiert. Während das von Menschenrechtsaktivisten begrüßt wird, beklagen Sicherheitsexperten das "fehlende Nervenzentrum" des Innenministeriums. Politische Beobachter indes halten die Einrichtung des HSS für pure Kosmetik.

Amr hat Angst, zur nächsten Nachtschicht nach Nasr City zu fahren. "Wer weiß, was heute wieder passiert?" Viele Kollegen fehlten, weil sie nach dem Dauereinsatz bei den Parlamentswahlen in den vergangenen Wochen nun frei hätten. Außerdem herrsche oft das pure Chaos beim Einsatz. "Du wirst angerufen und dann musst du sofort los, ohne Planung." Da habe sich nichts geändert. Eine ursprünglich vom Militärrat angekündigte Polizeireform ist bisher ausgeblieben. Stattdessen wechselte der Innenminister, Amrs oberster Dienstherr, bereits zum dritten Mal innerhalb eines Jahres.