71 Tote bei Randale in Port Said. Spieler rannten um ihr Leben. Ägyptens Militärrat und die untätigen Sicherheitskräfte in der Kritik

Kairo. Und wieder ist der Tahrir-Platz das Epizentrum des Zorns in Ägypten. Dieses Mal sind es wütende Fußballfans des Kairoer Klubs al-Ahly, die ihn besetzt halten. Rings um den Platz ist alles abgesperrt. Ahly-Fahnen und Schals dominieren über Mubarak-Karikaturen. Einige Demonstranten versuchen zum Innenministerium vorzudringen, um ihrem Frust gegen die Sicherheitskräfte Luft zu machen. Andere benutzen Metallstangen und Fahrzeuge, um den Platz abzuriegeln. Unter ihnen sind die sogenannten Ultras, für ihre Gewaltbereitschaft bekannte Anhänger des Fußballvereins. Vorsorglich hat das Goethe-Institut in der Nähe des Tahrir-Platzes seine Sprachkurse eingestellt und seinen Mitarbeitern empfohlen, zu Hause zu bleiben. Die Ausschreitungen beim Fußballspiel in Port Said am Mittwochabend zeigen, wie fragil die Sicherheitslage in Ägypten noch immer ist.

Der Abpfiff des Spiels schien für die Schläger ein Startsignal zu sein. Von allen Seiten stürmten sie auf das Fußballfeld und nahmen die Verfolgung der Spieler der Gegenmannschaft auf. Die Profis von al-Ahly rannten um ihr Leben. Anhänger der Heimmannschaft al-Masri setzten mit Flaschen, Steinen und Messern nach. Feuerwerkskörper flogen in die Menge, der Rasen geriet zum Schlachtfeld, auf den Zuschauerbänken brannte es. Viele Menschen wurden erdrückt, zertrampelt, einige stürzten von den Tribünen, erlagen ihren Stichwunden und Kopfverletzungen, andere sind vom Rauch erstickt worden. Das ägyptische Gesundheitsministerium spricht von 71 Toten und über 1000 Verletzten. Die meisten der Ahly-Spieler konnten sich noch in ihre Umkleidekabine retten. Doch die Fans der beiden Mannschaften fielen wie Wölfe übereinander her. "Einer unserer Anhänger starb noch in der Kabine", berichtet Ahmed Nagi, der Torwarttrainer von Ahly, "Hunderte Verletzte lagen auf den Korridoren." Mittelfeldspieler Mohammed Abu-Treika klagt: "Das ist Krieg, kein Fußball!" Sofort entbrannte die Diskussion um die Hintergründe. Al-Masri hatte doch den Gegner aus Kairo mit 3:1 geschlagen. Warum sollten gerade Fans des siegreichen Teams so wütend angreifen?

"Das entbehrt jeder Logik!", schrie ein entsetzter Sportkommentator des ägyptischen Staatsfernsehens, das das Spiel live übertrug. Als die Nachricht von den blutigen Krawallen nach Kairo drang, brachen die Verantwortlichen eine Spielbegegnung zwischen dem Verein Samalik und Ismailia beim Stand von 2:2 ab. Daraufhin flogen auch hier Brandsätze, und Randalierer stürmten die Ränge.

Bei der ersten Pressekonferenz nach der Tragödie in Port Said spricht Hescham Sheiha, Staatssekretär des Gesundheitsministeriums, vom "größten Unglück in der ägyptischen Fußballgeschichte". Der Präsident des Fußballverbandes Fifa, Sepp Blatter, zeigt sich "entsetzt und schockiert" von der Gewalt. "Es ist ein schwarzer Tag für den Fußball. Ein solches Drama ist jenseits des Vorstellbaren und darf nicht geschehen." Der Vorsitzende des ägyptischen Fußballverbandes, Samir Saher, setzte die Spiele der Ersten Liga auf unbestimmte Zeit aus.

Dem ersten Schock weicht nun die Ursachenforschung. Einig sind sich alle darüber, dass diese furchtbaren Ereignisse nicht rein sportlich motiviert sein konnten. Waren es Provokateure, die den Kessel zum Kochen und das Fass zum Überlaufen brachten? Etwa dieselben, die vor genau einem Jahr mit Kamelen durch die Menge am Tahrir-Platz ritten und ein Blutbad anrichteten? Die Muslimbrüder glauben das. Sie machen Anhänger des gestürzten Präsidenten Mubarak für die Gewalt verantwortlich. Der Abgeordnete Essam al-Erian von der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei sagte bei einer Sondersitzung des Parlaments: "Die Ereignisse in Port Said waren geplant und sind eine Botschaft des vorigen Regimes." Man wolle damit die Kritik am Militärrat, er habe den Ausnahmezustand, der in Ägypten seit 30 Jahren herrscht, nicht gänzlich zurückgenommen, zum Schweigen bringen. Port Said solle zeigen, dass man die Notstandsgesetze noch brauche.

Auf den Straßen von Port Said ist man sich einig: Es sollte zur Eskalation im Stadion kommen, der Gewaltausbruch war geplant. Ein Indiz dafür sei der ungewöhnliche Mangel an Sicherheitskontrollen. "Die Soldaten haben nichts gemacht, sie haben die Leute einfach durchgehen lassen, es gab keine richtigen Durchsuchungen", sagt der Jugendliche Mohammed. Wie er sind viele Ägypter davon überzeugt, die Gewalt sei inszeniert worden, um die sogenannten "Ultras" zu verunglimpfen. Bei ihnen handelt es sich um Fußballfans, die auch bei den Protesten auf dem Tahrir-Platz in Kairo eine wichtige Rolle spielten. In den Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften der Mubarak-Regierung stellten sie sich auf die Seite der Demonstranten und verhalfen ihnen damit zum Sieg über das Regime.

Die Beschreibung der Szenen hätte auch auf die Situation vor genau einem Jahr gepasst, als die Ordnungshüter die friedlichen Demonstranten nicht vor gewalttätigen Schlägertrupps schützen konnten - oder wollten. Die Menschen warfen den Polizisten anschließend grobes Versagen vor. Sie dienten dem Regime und nicht dem Volk, so der Vorwurf. Die Folge war, dass sich die Ordnungshüter zurückzogen.

Eine Woche lang war kein Polizist mehr auf Kairos Straßen zu sehen. Plünderungen und Zerstörungen von Geschäften, Einkaufszentren und öffentlichen Gebäuden konnten so ungestört passieren. Dass die Gewalt in Port Said politisch motiviert sein könnte, hält auch Feldmarschall Hussein Tantawi für plausibel. Allerdings vermutet der neue starke Mann in Ägypten dahinter Aufrührer und keineswegs Vertreter des alten Regimes. "Wer immer etwas gegen die Sicherheit Ägyptens plant, wird keine Chance haben", sagte der Vorsitzende des regierenden Militärrats am Flughafen von Kairo, als er gestern Morgen die Spieler des Ahly-Klubs in Empfang nahm. Seine Worte erinnern an alte Zeiten, als ausländische Kräfte für alles Übel im Land verantwortlich gemacht wurden. "Diese Ereignisse werden keine Auswirkungen auf die Entwicklung Ägyptens haben", lässt Tantawi wissen. Inzwischen ist der Chef der Sicherheitskräfte in Port Said entlassen worden und der Gouverneur zurückgetreten. Der Militärrat hat eine dreitägige Staatstrauer angeordnet und die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen aufgenommen.

Trotz der politischen Konsequenzen, die gezogen worden sind, reißt die Kritik am Militärrat nicht ab. Die Bewegung des 6. April, die mit ihren Massenprotesten vor einem Jahr den Sturz Mubaraks herbeigeführt hatte, erklärte, die Generäle verursachten das Chaos, um die Ägypter davon zu überzeugen, dass das Land ohne den Militärrat nicht zu regieren sei. Vorgesehen ist, dass der Militärrat die Macht bis Ende Juni an einen neu gewählten Präsidenten abgibt. Die Jugendbewegung zeigt sich besorgt: "Ist es logisch, dass der Militärrat für gewaltfreie Wahlen sorgen, aber ein Fußballspiel nicht absichern konnte?"