Der 30-jährige Ausnahmezustand in Ägypten ist aufgehoben. Die politischen Gräben ein Jahr nach Beginn der Revolution sind tief.

Kairo/Washington/Berlin. Zehntausende Menschen versammeln sich am Montag genau ein Jahr nach Beginn des ägyptischen Volksaufstands auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Hier nahm die Protestwelle ihren Ausgang, die zum Amtsverzicht des damaligen Präsidenten Husni Mubarak führten. Es ist die größte der zahlreichen Kundgebungen zur „Revolution des 25. Januar“ in Ägypten. Allerdings kamen auf dem Tahrir-Platz Anhänger der Muslimbruderschaft und eher linksgerichtete liberale Demonstranten getrennt voneinander zusammen, ein Abbild der politischen Gräben nach dem Sturz von Präsident Husni Mubarak.

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Die Kundgebungsteilnehmer bekannten sich zu abweichenden Zielen. Einige sagten, sie wollten feiern und die „Märtyrer der Revolution“ ehren. Die sogenannte Revolutionsjugend rief „Nieder mit der Militärherrschaft“ und erklärte, „Die Revolution ist noch nicht zu Ende“. Sie rief provozierend mit Blick auf Feldmarschall Hussein Tantawi: „Tantawi, komm und töte weitere Revolutionäre, wir wollen deine Hinrichtung!" Tantawis Militärrat übernahm die Regierung nach dem Rücktritt Mubaraks am 11. Februar 2011. Seit Oktober wurden mehr als 80 Demonstranten von Soldaten getötet. Menschenrechtsgruppen beklagen, dass seit der Machtübernahme des Militärrats mindestens 12.000 Zivilpersonen der Prozess vor Militärgerichten gemacht worden sei. Sowohl auf dem Tahrir-Platz als auch bei einer Kundgebung in Alexandria kam es zu vereinzelten Prügeleien zwischen Anhängern der verschiedenen Lager. Vor allem die Muslimbruderschaft, die jetzt die größte Fraktion im Parlament stellt, bemühte sich, die unzufriedenen „Revolutionäre“ zu beruhigen.

Die linksgerichteten Gruppen werfen Tantawi vor, das alte Regime weitgehend unangetastet gelassen zu haben. Die Muslimbruderschaft habe dies stillschweigend akzeptiert und sich auf den Gewinn der Parlamentswahl konzentriert anstatt auf die Umsetzung der Ziele des Volksaufstands wie soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit. „Wir sind nicht hier, um zu feiern. Wir sind hier, um die Militärherrschaft zu stürzen“, sagte der 27-jährige Iman Fahmi. „Sie haben die Revolution verraten und keines ihrer Ziele erfüllt.“ Gemeinsam mit Tausenden weiteren Demonstranten zog Fahmi am Mittwoch unter Führung von Nobelpreisträger Mohamed ElBaradei vom Nil zum Tahrir-Platz.

ElBaradei betonte, es gehe nun um eine Einigung, wie die Ziele des Aufstands umzusetzen seien: eine wahrhaft demokratische Verfassung, die Stabilisierung der Wirtschaft, Sicherheit, die Unabhängigkeit von Justiz und Medien und eine strafrechtliche Verfolgung jener, die für die Tötung von Menschen verantwortlich seien. Zum Jahrestag des Aufstandsbeginns gratulierte die US-Regierung Ägypten zu Fortschritten auf dem Übergang zur Demokratie. Das Land habe „einige historische Meilensteine“ erreicht, erklärte das Weiße Haus am Dienstag. Es seien wichtige Schritte unternommen worden, um die Versprechen der Revolution einzulösen. Es bleibe aber noch viel zu tun.

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Hussein Tantawi hatte am Dienstagabend angekündigt, der seit 1981 geltende Ausnahmezustand sei vom heutigen Mittwoch an aufgehoben. Damit sollten die Kritiker des Militärrats zufriedengestellt werden. Allerdings erklärte Tantawi einschränkend, im Umgang mit „Randalierern“ werde man die Notstandgesetze weiter anwenden. Die Revolutionsjugend erklärte daraufhin, Tantawis Beschluss sei eine Mogelpackung. Eine Sprecherin des US-Außenministeriums begrüßte die Entscheidung. Sie betonte jedoch, der Militärrat müsse präzisieren, was mit „Randalierertum“ gemeint sei.

Ägyptische Autorin warnt vor Faschismus

Die ägyptische Schriftstellerin und Journalistin Mansura Essedin sieht ein Jahr nach Beginn der Revolution in ihrem Land die Gefahr einer religiösen und militärischen Konterrevolution. Ägypten werde allerdings nie wieder so sein wie vor einem Jahr, es gebe viele Herausforderungen, dies sei in einem revolutionären Prozess aber normal, sagte Essedin am Mittwoch im Deutschlandradio Kultur.

„Ich glaube, dass alle Angst haben, dass wir es mit einem militärischen und religiösen Faschismus zu tun bekommen könnten, aber es ist trotzdem nicht mehr wie früher, denn alle sind sich dessen bewusst, was sie bewirken können und es gibt kein Zurück“, sagte die Autorin. Der Wahlsieg der islamistischen Muslimbrüder sei zwar erwartet worden, das „Problem der Muslimbrüder ist aber, dass sie sehr opportunistisch umgehen, und zwar sowohl mit der Revolution als auch mit den Militärs in Ägypten“, sagte Essedin, die an den Protesten auf dem Tahrir-Platz in Kairo teilgenommen hatte und über den Umsturz in Ägypten als Journalistin berichtet.

Über die Rolle des herrschenden Militärs sagte Essedin: „Wir wissen, mit was für einem niederträchtigen System wir es zu tun haben, wir sehen dass die Unterdrückung jetzt sogar zum Teil stärker ausgeübt wird als unter der Zeit von Mubarak, wir wissen, dass wir es mit Mördern zu tun haben, dass in Gefängnissen gefoltert wird“, sagte die Schriftstellerin, deren Romane in zahlreiche Sprachen übersetzt sind und die 2010 als eine der besten arabischsprachigen Autoren unter 40 ausgewählt wurde.

Die Misshandlung von Frauen, die an den Protesten teilnahmen, sei aus „Rache“ geschehen, „dafür, dass sie eine so tragende Rolle in der Revolution hatten“, sagte die Autorin. Die Frauen hätten aber nur umso entschlossener für ihre Rechte gekämpft. Sie hätten heute „eine sehr viel sichtbarere Rolle als dies unter dem alten Regime der Fall war.“

Mit Material von dapd/dpa/epd