Der Taliban-Anschlag auf Versammlung von Stammesführern in Kabul. Der Präsident Hamid Karsai verlässt den Tagungsort fluchtartig.

Hamburg/Kabul. "Ich rufe dich wieder dazu auf, mein Bruder, mein lieber Talib: kehre zurück. Dies ist dein Land", flötete der afghanische Präsident Hamid Karsai . Die Antwort des "lieben Bruders" erhielt er umgehend - in Form von mehreren Explosionen. Zwei Selbstmordattentäter der radikalislamischen Taliban sprengten sich unweit des riesigen Zeltes auf dem Gelände der Polytechnischen Universität Kabul, wo Karsai gerade seine Rede hielt, in die Luft. Zunächst behielt der afghanische Präsident die Nerven, sprach beruhigend auf die 1600 Delegierten der von ihm einberufenen Friedenskonferenz ein - "setzen Sie sich wieder hin, es passiert Ihnen nichts" -, doch als dann auch noch raketengetriebene Granaten flogen, auf einem benachbarten Feld nur 150 Meter entfernt einschlugen und zudem Maschinengewehrfeuer in der Nähe zu hören war, verließ Karsai die Versammlung fluchtartig in seinem gepanzerten Präsidenten-Konvoi.

Ein ungünstigerer Auftakt für eine "Friedens-Dschirga", eine Konferenz der afghanischen Stammesführer mit dem Ziel, endlich die Waffen schweigen zu lassen, ließe sich kaum denken. Indem es den Taliban gelungen war, ungeachtet eines gigantischen Aufwands der afghanischen Sicherheitskräfte - die 12 000 Mann zusätzlich aufgeboten hatten, um Anschläge zu verhindern - drei oder vier ihrer Attentäter unweit des Tagungsortes zu platzieren, haben sie ein weiteres Mal unmissverständlich deutlich gemacht, dass die Regierung Karsai nicht in der Lage ist, dem Land Sicherheit zu garantieren.

Wie Bildungsminister Faruk Wardak, der Organisator der Dschirga, später sagte, seien zwei Taliban, verkleidet in Burkas, von der Polizei bei einem Gefecht erschossen worden, einen dritten habe man festnehmen können. Taliban-Sprecher Zabiullah Mudschahid erklärte hingegen, vier Selbstmordattentäter, verkleidet in Polizeiuniformen und ausgerüstet mit Selbstmordwesten sowie schweren Waffen, hätten das Feuer auf die Friedens-Dschirga eröffnet, um sie "zu sabotieren und zu zerstören".

Und ausgerechnet an die Taliban hatte der Präsident in seiner Eröffnungsrede appelliert, sie eindringlich aufgefordert, sich ihm und seinem politischen Kurs anzuschließen: "Ihr solltet den fremden Truppen die Möglichkeit verschaffen, zu gehen", sagte Karsai, "macht euren Frieden mit mir - und es gibt keine Notwendigkeit für Fremde mehr. Solange ihr nicht mit uns redet, keinen Frieden mit uns schließt, werden wir die Fremden auch nicht gehen lassen." Abdul Sattar Khawasi, ein Abgeordneter aus der Provinz Parwan, sagte dem US-Sender ABC News, die Fähigkeit der Aufständischen, einen derartigen Angriff auszuführen, demonstriere allerdings die Schwäche der Regierung Karsai.

Ohnehin gibt es im In- und Ausland starke Zweifel daran, dass Karsais auf drei Tage angesetzte "Friedens-Dschirga" dem zerrissenen Land nennenswerte Forschritte bescheren kann. Die Taliban - gegen die die westlichen Truppen und die afghanische Armee vor allem kämpfen - boykottieren die Versammlung. Sie haben sogar allen Teilnehmern mit der Ermordung gedroht. Ihr militärischer Druck wird ständig stärker - ungeachtet der gewaltigen Truppenverstärkungen der Amerikaner. Karsai sieht inzwischen, dass er die Radikalislamisten militärisch nicht bezwingen kann, und bemüht sich, zumindest die gemäßigten Kräfte unter den Taliban für eine gemeinsame Regierung zu gewinnen. Taliban-Kämpfer sollen die Waffen niederlegen und mit Arbeitsplätzen versorgt werden. Dieses Programm, das Geberländer mit 130 Millionen Euro unterstützen, ist jedoch umstritten. "Es ist nicht klar, ob es überhaupt eine gemeinsame Basis für Karsai und seine Feinde gibt", sagte Paul Staniland, Experte für internationale Sicherheit am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT), dem US-Sender CNN. Alle Versöhnungspläne seien "irgendwie vage" bezüglich des entscheidenden Punktes - nämlich wie das Endergebnis dann aussieht.

Der frühere pakistanische Geheimdienstchef Hamid Gul sagte dazu in "Spiegel Online", mit der afghanischen Regierung sei eine Aussöhnung unmöglich. "Man spricht doch nicht mit Marionetten, sondern, wenn überhaupt, mit den richtigen Akteuren. Dies seien Taliban-Chef Mullah Omar und die US-Regierung. "Karsai ist doch schon längst Geschichte."

Hinzu kommen Vorwürfe, die 1600 Delegierten der "Friedens-Dschirga" aus allen Provinzen, vor allem Lokalpolitiker und Geistliche, seien von Karsai sorgfältig "handverlesen" worden, um seinen Interessen zu dienen. Der prominente Oppositionspolitiker und frühere Außenminister Abdullah Abdullah blieb mit seinen Anhängern aus diesem Grund ebenfalls der Konferenz fern. Aufständische sind bei der "Friedens-Dschirga" überhaupt nicht vertreten.