Vor zwei Jahren hat die ehemalige serbische Provinz ihre Unabhängigkeit erklärt. Die Jugend orientiert sich auf eine bessere Zukunft.

Prizren. Als der Krieg nach Prizren kam, war Nikson sieben Jahre alt. "Plötzlich waren überall serbische Soldaten, und wir wussten: Die können uns alle töten." Nie wird er vergessen, wie sein Vater in Prizren durch eine Mine furchtbare Brandverletzungen erlitt und nur knapp überlebte. Auch nicht, dass seine Familie nach der Vertreibung tagelang in einem Versteck im Wald hausen und in ein Lager vor der serbischen Armee flüchten musste.

Das Grauen ist lange vorbei, doch aus Niksons Erinnerung verschwindet es nie. Jetzt sitzt Nikson in einem Klassenzimmer des Loyola-Gymnasiums, das der deutsche Jesuitenpater Walter Happel vor vier Jahren in Prizren, einer 13.000-Einwohner-Stadt im Süden des Kosovo, gegründet hat. Die Schule gilt als die beste des Landes. Wer hier sein Abitur ablegt, hat einen großen Schritt in eine bessere Zukunft geschafft. Und Nikson will das nicht nur für sich, sondern auch für sein Land, will mithelfen, dass es "nach Europa" kommt, jedenfalls möglichst bald weit weg von der düsteren Vergangenheit, in der die Menschen untereinander töteten, nur weil sie unterschiedlichen Volksgruppen im Vielvölkerstaat Jugoslawien angehörten.

Gerade mal 13 Jahre ist es her, dass die Armee der Serben unter Diktator Slobodan Milosevic erbarmungslos gegen die Bevölkerungsmehrheit der Albaner und deren UCK-Milizen in der damaligen serbischen Provinz Kosovo vorging. Wie viele Menschen bei den Kämpfen starben, weiß niemand genau. Schätzungen gehen von 13 000 aus. Es wären wohl noch mehr geworden, wenn nicht im Frühling 1999 viele Staaten, darunter auch Deutschland, die Serben mit Luftangriffen zur Kapitulation gezwungen hätten und danach ins Kosovo einmarschiert wären. Noch heute stehen dort unter Uno-Mandat 15.000 Soldaten der Kfor-Truppen (Kosovo Force), um im Falle wieder aufflammender Gewalt zwischen Serben und Albanern eingreifen zu können. Allein die Bundeswehr stellt 2200 Männer und Frauen; noch ist es nach Afghanistan das zweitgrößte deutsche Kontingent in einem Auslandseinsatz. Diesen Monat soll es allerdings auf 1500 Soldaten verkleinert werden.

Nikson spürt heute noch die Erleichterung, als damals die ausländischen Truppen kamen. "Auch wenn ich mich gefragt habe, warum sie nicht früher gekommen sind."

Vor zwei Jahren hat das Kosovo seine Unabhängigkeit erklärt und ist seither der jüngste Staat der Erde. Niksons Perspektive ist klar: "Unsere Zukunft heißt Europa", formuliert er in nahezu perfektem Deutsch. Mit Besa (18) und Marigona (16), zwei Musliminnen, und den meisten der 750 Loyola-Schüler will der 18-jährige Katholik eines Tages die alten Eliten des jungen Staates ablösen. Jene Politiker vor allem, die nach ihrer Auffassung noch immer viel zu sehr der Tradition ethnischer Zuordnungen verhaftet seien. Die Frage, ob man zu den Albanern, Bosniern, Serben oder Roma gehöre, sei doch von gestern. "Wir sind alle Kosovaren", sagt Besa.

Sie will nach dem Abitur in Deutschland und in der Schweiz Jura studieren. "Dort sind die Universitäten sehr viel besser", hat die Schülerin von Freundinnen gehört. "Aber ich komme danach bestimmt zurück." Marigona hat sich vorgenommen, später in München Zahnmedizin zu studieren, versichert aber, dass auch sie anschließend in ihre Heimat zurückkehren wird. Und Nikson, der dankbar ist, dass sein Vater monatlich 70 Euro für den Besuch der Schule und 150 Euro für das Internat bezahlen kann und will, strebt nach dem Abitur ein Wirtschaftsstudium an. "Ich möchte danach hier ein Unternehmen gründen und Arbeitsplätze schaffen."

Es ist auch und vor allem der Geist des Loyola-Gymnasiums und seines Gründers Happel, der dieses Denken und die Zuversicht der jungen Kosovaren fördert. Doch bis es sich überall im Land, das mit einer Arbeitslosenquote von 40 Prozent kämpft und pro Einwohner gerade mal 3000 Euro pro Jahr erwirtschaftet, durchgesetzt hat, wird es noch eine Weile dauern. Besonders die Serben, die 5,3 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, grenzen sich kategorisch ab: Bei den ersten Kommunalwahlen im Kosovo Anfang Dezember 2009 folgten nahezu alle 40 000 Serben in der Enklave um Mitrovica dem Boykott-Aufruf aus der serbischen Hauptstadt Belgrad. In den serbischen Dörfern im Landesinneren des Kosovo gingen immerhin 25 Prozent der Bewohner zur Wahl.

Auch an seiner Schule würde Pater Happel gern Serben unterrichten. "Aber die wollen nicht", sagt er. "Die machen nirgends mit."

Das Loyola-Gymnasium liegt außerhalb Prizrens an einer Nebenstraße, die weiter zum Bundeswehr-Feldlager Airfield führt und auf schlammigen Wegen in den Weinbergen endet. Ein blauer Gebäudekomplex mit sorgfältig gefegtem Schulhof und akkurat arbeitenden Putzfrauen, wie er in jeder deutschen Stadt stehen könnte. Mit eigenen Bildern haben die Kinder Flure und Klassenzimmer dekoriert.

Kompromisslos fordert Happel von Schülern und Lehrern zuallererst Disziplin, Engagement und soziales Verhalten. "Wenn es nicht gelingt, die Mentalität zu ändern, sieht es düster aus", sagt der Schulleiter, der im Auftrag des katholischen Osteuropa-Hilfswerks Renovabis für 5,5 Millionen Euro das klassische Gymnasium aufgebaut hat. Wenn er über die Mentalität spricht, meint er Egoismus, Schlendrian gepaart mit Intoleranz. Happel will den Jungen und Mädchen Wege aus den traditionellen Sichtweisen zeigen, die Menschen nach Religion, Volk und Geschlecht unterscheiden.

Happel weiß, dass er mit seinen Ideen manche Traditionalisten in einem Land gegen sich aufbringt, in dem die Bevölkerung zu 93 Prozent muslimisch ist und wo bis vor wenigen Jahren Frauen, die Auto fuhren, kritisch beäugt wurden. Sein Konzept hat viele Eltern irritiert. "Ich habe dafür gesorgt, dass auch die Jungen Geschirr spülen", berichtet der Pater. Als sich die Eltern darüber wunderten, setzte er nach und führte den gemeinsamen Sportunterricht von Jungen und Mädchen bis zur zwölften Klasse ein.

Dass die deutschen Soldaten nur wenige Hundert Meter entfernt sind und täglich Präsenz am Gymnasium zeigen, beruhigt den Pater. Die Einheit hat eine Patenschaft für die Schule übernommen. "Man besucht sich gegenseitig und lernt einander kennen", sagt der Sprecher der Bundeswehr in Prizren, Major Hans-Christian Köhnke. Die Soldaten dürfen außerdem die Sportanlagen der Schule benutzen, wenn Ferien sind.

In ethnische Konflikte eingreifen musste die Bundeswehr während der vergangenen sieben Monate nicht. Brigadegeneral Benedikt Zimmer (48), der bis Jahresende das Kommando hatte, sagt: "Es reicht, unsere Präsenz zu zeigen. Wir üben sichtbar. Jeder sieht, dass wir da sind." Und weil das so ist, nennt er die Kfor-Mission eine "Erfolgsgeschichte", über die in Deutschland aber kaum gesprochen werde. Selbst Verteidigungsminister Theodor zu Guttenberg (CSU) hat unlängst festgestellt, dass der Kosovo-Einsatz "aus dem Fokus" geraten sei.

Anders bei den Kosovaren selber. "Wir können noch nicht auf eigenen Beinen stehen", sagt Besa. Und auch Nikson fürchtet, dass bei einem vollständigen Abzug der ausländischen Truppen die Extremisten im Land ihre Chance erkennen und unbehelligt Unruhen anstacheln könnten. Dann, so Nikson, wäre der Weg seines Landes nach Europa noch weiter.