Der kleine Weiyi war im Alter von drei Monaten in einem Krankenhaus in der Provinz Liaoning mit einer Überdosis Penicillin behandelt worden. Er...

Der kleine Weiyi war im Alter von drei Monaten in einem Krankenhaus in der Provinz Liaoning mit einer Überdosis Penicillin behandelt worden. Er wurde auf beiden Ohren taub. Jahrelang versuchte seine Familie, eine Entschädigung für das Kind zu erhalten: beim Krankenhaus, bei den Petitionsbüros des Staatsrates, des Nationalkongresses, des Obersten Volksgerichts, des Eisenbahn- und des Gesundheitsministeriums. Alles ohne Erfolg. Nach sechs Jahren erfuhr Gao Zhisheng von Weiyi und übernahm den Fall pro bono, da die Familie kein Honorar zahlen konnte.

Gao wollte70 000 Euro (umgerechnet) Schadenersatz inklusive Schmerzensgeld verlangen. Bei der Klageeinreichung warnte ihn der Richter, er solle das Risiko eines verlorenen Prozesses lieber meiden: "Dieses Gericht hat noch nie mehr als 50 Euro Schmerzensgeld zugestanden." Aber Weiyi gewann den Prozess, sogar eine Berufungsverhandlung und erhielt 83 700 Euro - den höchsten Betrag, der bis dahin in einem Ärztefehlerprozess in China gewährt worden war.

Gao Zhisheng, der Fälle wie diesen in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch "Chinas Hoffnung" beschreibt, ist mittlerweile selbst zum Opfer geworden. Noch 2001 ehrte ihn das Justizministerium als einen der zehn besten Anwälte Chinas: Obwohl Christ, war Gao Parteimitglied und Musterfall eines Bauernkindes, das trotz marginaler Schulbildung eine Jura-Ausbildung im Fernstudium bewältigt hatte. Und offiziell betont die KP, dass auch "der kleine Mann" in China Rechte hat.

Gao vertrat Opfer von Abrissaktionen und Umsiedlungen, willkürlich Verhaftete, Arbeiter von Kohlebergwerken und religiös Verfolgte. 2005 protestierte er in offenen Briefen an die Regierung gegen fortgesetzte Rechtsbrüche und gegen die Folter von Falun-Gong-Mitgliedern. Kurz darauf wurde seine Kanzlei in Peking geschlossen. Die Familie stand unter Hausarrest. 2006 wurde Gao festgenommen und wegen "Aufhetzung zur Subversion gegen die Staatsmacht" zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Im September 2007 verschleppten ihn Sicherheitsleute an einen unbekannten Ort.

Sein biografisches Buch, das er noch vor seiner Verhaftung schrieb, ist ein Hilferuf, zum Teil sehr emotional, teilweise umständlich übersetzt. Aber es öffnet den Blick auf Chinas wirkliche Rechtsprobleme. Bauern werden inhaftiert, weil sie auf eigene Kosten einen Wirtschaftsweg bauen. Lokale Behörden konfiszieren die Ölbohrstelle dreier Investoren samt Geräten und Vermögen. Selbst altgediente KP-Mitglieder und Hochschuldozenten verlieren ohne Abfindung ihre Häuser durch Baufirmen, die mit Behörden kungeln.

Die Konflikte in Chinas Gesellschaft, schreibt Gao, seien hausgemacht. China habe eine "großartige Verfassung" und bereits eine Reihe guter Gesetze, in der Bevölkerung gebe es ein feines Gerechtigkeitsempfinden. Das Recht scheitere aber immer wieder an der Allianz zwischen Behörden, Gerichten und Partei. Der größte Schaden, der China durch die lange Parteiherrschaft entstanden sei, "ist der Verfall der Moral und der Verlust der Menschlichkeit", schreibt er. Gaos Schicksal ist ungewiss. Es gebe Hinweise, dass er am Leben sei, sagte sein Herausgeber Thomas Kalmund dem Abendblatt. Er rechne aber nicht damit, dass China während der Olympics einen Prozess riskieren werde.


Gao Zhisheng: "Chinas Hoffnung", Agenda Verlag, 371 S., 14,95 Euro.