Das Unglück hatte sich mit leichten Erdstößen am Vorabend angekündigt. Doch die meisten Menschen waren in ihren Häusern geblieben - nicht ahnend, was noch folgen sollte.

L'Aquila/Hamburg. Der Staub ist überall an diesem Montagnachmittag. Er liegt auf den Motorrollern, die auf wundersame Weise heil geblieben sind; er liegt auf der Rinde der Bäume, die oben in L'Aquila, inmitten der bergigen Abruzzen, noch viel winterlicher aussehen als die unten in Rom, eineinhalb Stunden von hier. Er liegt auf Trümmern, faustgroßen Steinen, mannshohen Brocken, die aus zerstörten Häusern herausgebrochen sind, und auf dem cremefarbenen Mini Cooper mit dem Kennzeichen DM 2255EV; er liegt auf den Gesichtern der Verletzten und der Toten dieser Nacht.

Alles begann um 3.32 Uhr tief unter der Erde unter dem kleinen Örtchen Paganica, einem Vorort von L'Aquila. Etwa 30 Sekunden bebte hier die Erde, von hier breiteten sich jene Erdstöße aus, die im italienischen Fernsehen mit roten Kreisen dargestellt sind und in der Kürze der Zeit Orte zerstörten, die doch eigentlich so sorgenfrei klingende italienische Namen haben: Santo Stefano di Sessanio, Castelvecchio Calvisio, San Pio, Villa Sant'Angelo. Doch seit gestern stehen diese Namen auch für bislang mindestens 150 Tote, die in den Trümmern ihrer Städte ums Leben gekommen sind. Der Schrecken hatte sich angekündigt: Bereits am Vorabend, gegen 23 Uhr am Palmsonntag, waren viele Bewohner der nun betroffenen Orte nach einem leichten Beben auf die Straßen gelaufen. Doch die meisten kehrten in ihre Häuser zurück, nicht ahnend, was folgen würde.

Montagmittag in L'Aquila: Schaut man gerade nach oben, dann wirkt alles friedlich, die Frühlingssonne fällt aus einem blauen Himmel in die Stadt hinunter. Doch blickt man geradeaus, sieht man eine junge Frau, Clara, rosa Schlafanzug, darüber eine Jacke. Die Jacke hat sie sich schnell noch übergezogen, als sie aus dem Haus stürzte, ein paar Sekunden nach "tre e trentadue", 3.32 Uhr, jener Zeitangabe, die minütlich in den Nachrichtensendungen wiederholt wird und schon jetzt im kollektiven Gedächtnis der Italiener eingebrannt zu sein scheint. "Alles ist zerstört", sagt die junge Frau auf die Frage, was mit ihrem Haus passiert sei, "es war wie im Film, aber es war echt." Gerade noch habe sie sich mit ihrem Verlobten retten können, doch selbst Stunden nach dem Beben kann sie das Zittern ihrer Hände noch immer nicht kontrollieren. "Was uns gerettet hat, ist ein großer Schrank in unserem Schlafzimmer, der die umstürzende Mauer gehalten hat. Sonst wäre alles über uns zusammengebrochen."

Ein paar Meter weiter, in der Via XX Settembre, rufen Feuerwehrmänner, man solle ruhig sein. Sie graben in den Überresten eines eingestürzten vierstöckigen Gebäudes nach einer vermissten Frau, Signora Anna, so sagen Umstehende, heiße sie. Weiter die Straße abwärts bergen Arbeiter des Zivilschutzes vier Studenten tot aus den Trümmern eines teilweise eingestürzten Studentenwohnheims. Einige Verletzte kommen in die Kirche San Salvatore, denn das örtliche Krankenhaus ist zu 90 Prozent zerstört. Vielen steht die Angst noch ins Gesicht geschrieben. Der Bürgermeister von L'Aquila, Massimo Cialente, sagt am Telefon: "Jetzt gerade, während ich mit Ihnen telefoniere, spüre ich schon wieder ein leichtes Beben."

Halb Italien spürte das Beben, und weil es so stark war, dass selbst in Rom Regale und Lampen wackelten und viele Menschen mitten in der Nacht ihre Häuser verließen, war es wie eine Vorhersage auf die Grauen, die der Tag noch bringen würde: Morgens um 7.47 Uhr melden die Nachrichten noch 17 Tote, um 9.40 Uhr sind es 27, um 11 Uhr schon 40 Menschen, die ums Leben gekommen sind. Zur Mittagszeit treffen die Zahlen aus den kleinen, schwer zugänglichen Dörfern ein, es ist von 60 Toten die Rede, schließlich 150. Es hört nicht auf. Bis zum Abend sagen die Sprecher der Nachrichtensendungen immer denselben Satz: "Continua a salire il numero dei morti", die Zahl der Toten steige noch an.

Gleichzeitig beginnt die Diskussion, ob es so kommen musste, wie es kam. Ob man gewarnt sein konnte. "Das ist ein Skandal, seit drei Monaten schon hat regelmäßig die Erde gebebt, die Behörden wissen das genau!", sagt Maria, eine junge Frau aus L'Aquila. Sie sitzt neben ihrem Auto, das mit zerdelltem Dach und zerborstenen Scheiben am Straßenrand steht. Trotzdem schiebt Maria ihre Koffer durch das Loch an der Stelle, wo einst die Windschutzscheibe war - sie hofft, dass der Wagen noch fährt, und will "so schnell wie möglich" aus L'Aquila fliehen, weil sie Angst vor Nachbeben hat. Beim Stand von 17 Toten berichtet "La Repubblica" im Internet über den Erdbebenforscher Giampaolo Giuliani, der vor Kurzem mithilfe eines von ihm entwickelten Messgerätes ein großes Beben in der Region um L'Aquila vorausgesagt hat; Giuliani misst das radioaktive chemische Element Radon im Boden. Das Institut für Geophysik und Vulkanologie verschickt eine Presseerklärung: "Wir unterstreichen, dass nach dem heutigen Wissensstand es nicht möglich ist, mit absoluter Sicherheit Erdbeben vorauszusagen." Leser kommentieren: "Sandy1965" ist empört über den Staat, der seine Bürger nicht schützt. "Luthvime" meint, es gehe jetzt nicht um Schuld. Es gehe um Trauer. Der Chef des Instituts für Geophysik und Vulkanologie gibt am Nachmittag den betroffenen Bürgern selbst die Schuld. "Es ist nicht Teil unserer Kultur, in seismischen Zonen der Gefahr angemessen zu bauen." So seien Häuser eingestürzt, "die nicht dafür konstruiert worden sind, einen solchen - nicht besonders heftigen - Erdstoß zu ertragen."

Im Fernsehen laufen unterdessen neue Bilder ein: Ein Mann mit baumstammdicken Armen und nacktem, von Staub überzogenem Oberkörper bricht weinend in den Armen eines Helfers zusammen; grauer Staub, dazwischen das grelle Rot und das grelle Gelb der Feuerwehrleute. Bewohner von L'Aquila werden gefragt, wo sie jetzt übernachten würden: "Wir wissen es nicht", sagt ein junges Pärchen unter einem strahlend blauen Himmel, "bei Freunden, im Auto, in einer Notunterkunft". Im Hintergrund ziehen ein Mann und eine Frau zwei rote Rollkoffer hinter sich her. Hätte man sie gestern gesehen, man würde sagen, sie gehen in die Osterferien. Heute haben sie ihre Sachen zusammengepackt, um irgendwo schlafen zu können, wo es sicher ist. Geschätzte 100 000 Menschen sind nun obdachlos. "Es ist ein biblischer Exodus", sagt ein Reporter: "Ich habe Leute gesehen, die mit Wasserflaschen herumlaufen, als wären es wertvolle Reliquien."

Am Montagnachmittag trifft Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi in L'Aquila ein. Am frühen Morgen hatte er seinen Staatsbesuch in Russland abgesagt und den nationalen Notstand ausgerufen. Guido Bertolaso, Chef des Zivilschutzes und der Mann, der auch die Müllkrise von Neapel bewältigte, soll nun auch die Katastrophenhilfe in den Abruzzen leiten. Dann fliegt der Ministerpräsident von Mailand nach Rom und von dort mit dem Hubschrauber über die noch schneebedeckten Berge der Abruzzen. Zwischendrin gibt er Interviews: "Alle, die Hilfe brauchen, werden sie erhalten." Für den Abend kündigt er eine außerordentliche Sitzung seines Kabinetts an. Er spricht anders als sonst. Keine Scherze diesmal, er spricht mit tieferer Stimme und langsamer. Gegen die Wirtschaftskrise hat er bislang immer Optimismus verordnet, schon das Reden über die Krise hielt er für schädlich. Nun hat er keine Krise, sondern eine Katastrophe zu bewältigen. Der Vatikan gibt unter der Nummer B0229-XX.01 ein Beileidstelegramm des Papstes heraus. Benedikt XVI. bete vor allem für die toten Kinder und ermutige die Helfer, heißt es.

Jene Stadt, Paganica, aus deren Tiefen das Unheil über die Abruzzen kam, ist mit am stärksten vom Erdbeben betroffen. "Wir wissen nicht, wo wir heute übernachten, wir wissen nicht einmal, wo wir zu Mittag essen", sagt nachmittags eine Frau auf dem großen Platz vor der Kirche Immacolata Concezione. Die Kirche, in die am Sonntag noch viele Gläubige mit Ölzweigen zur Palmsonntagsprozession hineinzogen, ist nun eine Ruine, mühsam scheint sich die Fassade noch zu halten. Irgendjemand hat rote Plastikstühle in einem weiten Bogen um die Kirche gestellt. Sie sollen offenbar davor warnen, sich der Kirche zu nähern: akute Einsturzgefahr. Im Schatten der Kirche steht ein Zelt. Hier liegen die Toten dieser Nacht. Es könnten noch mehr werden. Denn die Nachrichtensprecher sagen immer noch: "I numeri crescono ancora" - die Zahl der Toten steigt noch an.


Weitere Bilder aus der Katastrophenregion unter: www.abendblatt.de/erdbeben