Die Polizei durchsucht Wohnungen von mehreren russischen Oppositionsführern - einen Tag vor der großen Anti-Putin-Kundgebung.

Moskau. Der Montagmorgen begann in Moskau mit Razzien. Um 8 Uhr waren die Straßen im Außenbezirk Marjino noch leer. Der Montag vor dem russischen Nationalfeiertag war frei, die meisten Einwohner wollten ausschlafen oder waren bereits am Tag davor auf ihre Datschas gefahren. In einem der Plattenbauten wohnt die Familie des Bloggers und Oppositionspolitikers Aleksej Nawalny. Ihre Ruhe wurde früh von der Polizei gestört. "Bei mir zu Hause gibt es eine Durchsuchung. Sie haben fast meine Tür zersägt", schrieb Nawalny bei Twitter um kurz vor 9 Uhr.

Zwei bewaffnete Polizisten blockierten die Haustür und ließen seine Anwältin lange nicht hinein. Die Ermittler stellten in der Wohnung alles auf den Kopf. "Sie haben alle elektronischen Datenspeicher beschlagnahmt, sogar CDs mit Kinderfotos", schrieb Nawalny und postete Fotos aus der Wohnung. Unter den Beweisen, die die Ermittler konfiszierten, war auch ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Einiges Russland - Partei der Gauner und Diebe", twitterte er später. Danach wurde Nawalnys Smartphone beschlagnahmt.

Am selben Tag wurde die Wohnung der Eltern von Nawalnys Frau Julia durchsucht. Gleichzeitig wurde das Büro von Nawalnys Stiftung zur Bekämpfung der Korruption, Rospil, von bewaffneten Männern mit Masken blockiert. Der Verdacht gegen den prominenten Blogger: Anstiftung zu Massenunruhen. Am 6. Mai kam es bei einer Großkundgebung in Moskau zu einer Eskalation: Die Polizei ging hart gegen Demonstranten vor. In den Wochen danach wurden bereits mehrere oppositionelle Aktivisten und einfache Teilnehmer der Demonstration festgenommen. Gestern erschien die Polizei vor der Tür prominenter Oppositionsführer. Auch die Wohnungen des Linkspolitikers Sergej Udaltsow, der Fernsehmoderatorin Ksenia Sobtschak und Ilja Jaschins von der Oppositionsbewegung Solidarnost wurden durchsucht.

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Die Ermittlungsbehörden teilten mit, dass in Moskau insgesamt zehn Razzien durchgeführt wurden. Bei Udaltsow wurden Rechner, Datenspeicher und Symbolik seiner Bewegung Linke Front beschlagnahmt. Bei Ksenia Sobtschak nahm die Polizei angeblich eine größere Bargeldsumme aus dem Tresor mit. Die Moderatorin, die nach Medienberichten eine Beziehung mit dem Oppositionellen Ilja Jaschin hat, erzählte dem Radiosender BBC, dass die Durchsuchung erniedrigend war: Die Polizisten hätten ihre privaten Briefe gelesen. Alexej Nawalny, Sergej Udaltsow, Ilja Jaschin und Ksenia Sobtschak wurden Vorladungen überreicht - heute sollen sie um 11 Uhr zum Verhör im Ermittlungskomitee erscheinen. Kein Zufall, denn um 12 Uhr soll in Moskau eine Großdemonstration gegen den Präsidenten Wladimir Putin beginnen. Mit den Razzien wollten die Behörden vermutlich die Menschen von der Teilnahme am "Marsch der Millionen" abschrecken. "Ihre Aufgabe war, zu erschrecken und die Oppositionsführer zu neutralisieren", sagt der regierungskritische Politiker Boris Nemtsow. Auch vor seiner Tür stand gestern die Polizei, doch er war nicht da und erfuhr von seinen Nachbarn, was passierte: "Um 7.30 Uhr stürmte die Polizei mein Haus. Die Menschen mit Maschinengewehren besetzten das Treppenhaus, die Nachbarn waren erschrocken."

Kurz bevor Wladimir Putin im März erneut zum Präsidenten gewählt wurde, hatte er die Demokratisierung des politischen Systems angekündigt. Eine neue Regelung soll die Gründung von Parteien erleichtern, die Gouverneure sollen wieder direkt gewählt werden, allerdings mit einem Filter, der unerwünschte Kandidaten von der Wahl ausschließen könnte. Hinter dieser Fassade werden jedoch in Wirklichkeit die Freiheiten zurückgefahren. Am Freitag unterschrieb Putin das neue Versammlungsgesetz. Danach wurden die Strafen für die Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen drastisch erhöht. Für Privatpersonen sollen die Höchststrafen nun 300 000 Rubel (7400 Euro) oder 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit betragen, für juristische Personen eine Million Rubel (24 600 Euro). Änderungen der genehmigten Kundgebungsroute, Tragen von Masken und Störungen des Straßenverkehrs sind ebenfalls strafbar. Das neue Gesetz wurde vom russischen Menschenrechtsrat beim Präsidenten kritisiert, der Ex-Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, nannte das Gesetz "Willkür". Die neuen Regeln wurden ungewöhnlich schnell vom Parlament verabschiedet, damit sie für die heutige Großdemonstration gelten können.

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Die Abschreckungsaktion am Montag betraf nicht nur die Hauptstadt. In Saratow, einer Stadt 800 Kilometer südöstlich von Moskau, wurden zwei Oppositionsaktivisten festgenommen. Elena Paschkowa und Alexander Makajew wollten in den Bus steigen, um nach Moskau zur Demonstration zu fahren, als sie gestoppt wurden. Die Polizei nahm sie fest unter dem Verdacht, dass Makajew eine Bombe im Rucksack habe, was sich aber später nicht bestätigte.

Auch die Arbeit der Medien ist betroffen. Der regierungskritische Fernsehsender TV Rain hatte mit fünf Moskauern vereinbart, auf den Balkonen ihrer Wohnungen entlang der Kundgebungsroute Kameras aufzustellen. "Gestern ist mit den Wohnungsbesitzern etwas Seltsames passiert: Sie haben plötzlich die Stadt verlassen und die Schlüssel mitgenommen, einige hatten ihre Handys ausgeschaltet", teilte der Chefredakteur des Senders, Michail Sygar, mit. Einer von ihnen habe gesagt, er sei von "Vertretern der Macht" kontaktiert worden.

Allerdings könnte das Vorgehen der Polizei auch eine mobilisierende Wirkung auf die Moskauer haben. "Das, was heute passiert, ist die beste Werbung für die Demonstration", sagte der Journalist Oleg Kaschin im Radiosender Kommersant FM. Die Durchsuchungen und Festnahmen wurden in den russischen sozialen Netzwerken rege diskutiert. Die Nutzer verglichen die aktuellen Ereignisse mit dem Stalin-Terror der 1930er-Jahre.