Berlin. Jahrelang wurde die Bedrohung durch Russland verschlafen, jetzt wappnet sich die Bundeswehr für den Ernstfall – doch es gibt Hürden.

Wer in diesen Tagen mit Angehörigen der Bundeswehr spricht, hört immer wieder diese Abkürzung: LV/BV. Die vier Buchstaben stehen für Landes- und Bündnisverteidigung und somit für die sicherheitspolitische Zeitenwende in Europa. Verteidigungsminister Boris Pistorius will die Truppe „kriegstüchtig“ machen für den Fall, dass Russland nach der Ukraine auch die Nato angreift. Dafür plant der Sozialdemokrat eine größere Bundeswehrreform, die er am Donnerstag vorstellen wird.

Eine Arbeitsgruppe im Bundesverteidigungsministerium hat Pistorius unter der Überschrift „Bundeswehr der Zukunft“ Vorschläge für einen Umbau der Truppe gemacht. „Nicht weniger als die Neuausrichtung der Bundeswehr“ sei erforderlich, steht in dem bisher nicht offiziell veröffentlichten Bericht. „Sie muss zur zeitgemäßen Landes- und Bündnisverteidigung voll befähigt sein und gleichzeitig wirksame Beiträge im internationalen Krisenmanagement und der nationalen Krisenvorsorge leisten können.“

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Die vergangenen zwei Jahrzehnte prägten internationale Kriseneinsätze wie in Afghanistan oder Mali die Bundeswehr. Die in den Auslandseinsatz geschickten Soldaten mussten ausgerüstet sein, ein Mangel von Gerät und Personal in den Verbänden zu Hause wurde hingenommen. Die Truppe war nicht in erster Linie darauf ausgerichtet, Nato-Gebiet oder gar Deutschland selbst zu verteidigen. Der Fokus richtete sich auf Krisen an der Peripherie Europas, die allenfalls in Form von Terrorismus oder Flüchtlingsbewegungen Auswirkungen auf die Lage hierzulande haben konnten.

Russland: Greift Putin in fünf Jahren die Nato an?

Das Szenario eines staatlichen Angriffs spielte in den militärischen Planungen bislang keine Rolle. Ein erster Warnschuss war die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland 2014, woraus allerdings kaum Konsequenzen gezogen wurden. Der russische Überfall auf die Ukraine vor zwei Jahren führte den westlichen Militärstrategen endgültig vor Augen, wie sehr sie die Bedrohung durch Kreml-Herrscher Wladimir Putin verschlafen haben.

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    Inzwischen geht die Bundeswehr davon aus, dass Russland in fünf Jahren so weit aufgerüstet haben könnte, dass Putin einen Angriff auf die Nato wagt. Für die Truppe bedeute dies, „dass der vorrangige Fokus ihres Handelns heute wieder der Fähigkeit zur Abschreckung und Abwehr von staatlichen Angriffen ist“, heißt es im Reformpapier aus dem Verteidigungsministerium. Kernauftrag sei die Verteidigung gegen Staaten wie Russland.

    Damit sei die „jederzeitige Bereitschaft und Fähigkeit zu konsequenten und effektiven militärischen Reaktionen auf konventionelle Angriffe gegen uns und unsere Bündnispartner, aber auch zur Abwehr hybrider Bedrohungen“ gemeint. Um dem Anspruch der Kriegstüchtigkeit zu genügen, müsse die Bundeswehr „als Ganzes auf den Ernstfall ausgerichtet sein“.

    Kramp-Karrenbauer scheiterte mit einer Reform

    Die Arbeitsgruppe schlägt Pistorius eine große Reform vor, die dem Vernehmen nach zu Unruhe im Ministerium führte. Anstatt wie bisher sechs militärische Organisationsbereiche soll es demnach künftig vier Teilstreitkräfte geben: Zu den traditionellen Sparten Heer, Luftwaffe und Marine kommt als aufgewerteter Bereich eine Teilstreitkraft für den Cyber- und Informationsraum hinzu, um sich besser gegen Angriffe auf dem digitalen Schlachtfeld zu wappnen. Einem solchen Umbau dürften zwei der bisher sechs prestigeträchtigen Inspekteursposten zum Opfer fallen.

    Bundeswehr in der Zeitenwende: Eine Truppe vor dem Burn-out

    Das für Auslandseinsätze verantwortliche Einsatzführungskommando und das fürs Inland zuständige Territoriale Führungskommando sollen in einem neuen operativen Führungskommando der Bundeswehr (OpFüKdoBw) gebündelt werden. Der bisherige Sanitätsdienst, die Logistiker der Truppe und weitere Bereiche werden in einem neuen Unterstützungskommando zusammengefasst. Bisher ist ungewiss, ob Pistorius die Reformideen allesamt umsetzt und sich an einen großen Umbau wagt.

    Die Truppe stagniert: Die Bundeswehr braucht mehr Soldaten
    Die Truppe stagniert: Die Bundeswehr braucht mehr Soldaten © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

    Zuletzt hatte Annegret Kramp-Karrenbauer als Verteidigungsministerin Pläne für eine grundlegende Reform vorgelegt, die aber nach der Bundestagswahl 2021 und dem Ausscheiden der CDU-Politikerin aus dem Amt beschriebenes Papier blieben. Die Hoffnungen auf Pistorius sind nun groß. Zentrale Aufgabe müsse es sein, „dysfunktionale Strukturen aufzubrechen, entbehrliche Stäbe und Kommandos abzubauen, die kämpfende Truppe zu vergrößern“, forderte die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) in ihrem jüngsten Jahresbericht. „Ziel muss es sein, eine Armee zu schaffen, die vom ersten Tag an komplett einsatzfähig ist.“

    Wehrpflicht: Pistorius will den Ernstfall vorbereiten

    Ein Riesenproblem ist die Personallage: Anstatt wie geplant zu wachsen, stagniert die Truppe bei etwa 182.000 Soldatinnen und Soldaten. Der Fachkräftemangel und die demografische Entwicklung setzen die Bundeswehr ebenso unter Druck wie viele Wirtschaftsunternehmen. In Zusammenhang mit der militärischen Bedrohungslage wird im Verteidigungsministerium daher über Lösungen nachgedacht, zu denen auch die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht gehört.

    Pistorius ist Anhänger des schwedischen Modells, bei dem alle Angehörigen eines Jahrgangs erfasst und vom Militär kontaktiert werden. Eine Dienstpflicht ist in der Ampelkoalition umstritten, die politische Entscheidung steht daher noch aus. In dem Planungspapier empfehlen die Experten dem Minister allerdings die „Vorbereitung und Prüfung von Wehrerfassungs- und Musterungsprozessen“, um die Einberufung von Wehrdienstleistenden im Kriegsfall bewältigen zu können.

    Wehrpflicht-Comeback: Pistorius setzt auf Schweden-Modell