Kiew. Mitten im Krieg soll Kiew auf Wunsch einiger Verbündeter Wahlen abhalten – doch Selenskyj zögert, obwohl ihm der Sieg wohl sicher wäre.

Der republikanische US-Senator Lindsey Graham sprach vergangenen August während seines Besuchs in Kiew das erste Mal davon – und seitdem kommt das Thema immer wieder auf: Soll die Ukraine im kommenden Frühjahr regulär die Präsidentschaftswahlen abhalten? „Ich kann mir kein besseres Symbol für die Ukraine als die Austragung der freien und fairen Wahlen während des Krieges vorstellen“, hatte Graham betont. Doch in der Ukraine herrscht Kriegsrecht. Und schon die Parlamentswahl im Herbst war dadurch verschoben worden. Trotzdem wird weiterhin über die Austragung diskutiert.

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Zuletzt hatten die EU-Außenminister Anfang Oktober hinter verschlossenen Türen in Kiew darüber beraten, der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg sprach sich ganz offen für die Wahlen im Krieg aus. Aber nicht nur in Wien, auch in einigen anderen EU-Hauptstädten gibt es verstärktes Interesse daran, dass die Ukraine trotz des russischen Angriffskriegs ihr demokratisches Wesen unter Beweis stellen soll. „Es gibt keine offizielle Position und keine offiziellen Äußerungen seitens der EU“, sagt der ukrainische Politologe Wolodymyr Fessenko, Chef des Zentrums für angewandte politische Forschung Penta, gegenüber dieser Redaktion. „Ein gewisser Druck existiert aber tatsächlich.“

Würden die Wahlen nicht wie geplant ausgetragen, liefere dies Kritikern ein Argument gegen die weitere militärische Unterstützung der Ukraine. „Daher gibt es den Wunsch an Kiew, das Problem im Voraus aus dem Weg zu räumen“, sagt Fessenko. „Allerdings ist die Einstellung zu möglichen Wahlen sowohl bei der ukrainischen Bevölkerung als auch bei der politischen Elite negativ.“ Sowohl in der Regierung als auch in der Opposition sei man eher skeptisch.

Selenskyj: Gelder für Wahlen werden woanders gebraucht

Präsident Wolodymyr Selenskyj schließt Wahlen trotz der gesetzlichen Vorschriften nicht kategorisch aus. Während seines Besuchs in Rumänien vergangene Woche betonte er, noch einmal antreten zu wollen, sollten diese noch während des Krieges stattfinden. Ob die Austragung am 31. März 2024 ernsthaft in Betracht gezogen wird, sagte er aber nicht. Eigentlich ist der Präsident der Ansicht, dass die für die Wahlen nötigen Milliarden dringend woanders, nämlich zur Verteidigung gegen die Russen, gebraucht werden – auch deshalb forderte er die Finanzierung der Wahlen aus dem Ausland.

Allein der Schutz der Wählerinnen und Wähler müsse vor einer Austragung gewährleistet werden können, fordert Selenskyj. Außerdem müsse sichergestellt werden, dass auch Geflüchtete und Soldatinnen und Soldaten abstimmen können. Technisch gibt es in der Ukraine durchaus Möglichkeiten, um diese Probleme zu lösen. Noch 2019 ist Selenskyj mit der Idee angetreten, die Wahlen zukünftig digital austragen zu lassen. Die erfolgreiche Staatsdienstleitungsapp Dija („Aktion“), die unter Datenschützern als relativ sicher gilt, könnte die Abstimmung erleichtern – auch wenn selbst dann nicht alle Wahlberechtigten erreicht werden könnten.

Denn der Umstand, dass rund 20 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets noch immer von der russischen Armee besetzt sind, wirft die Frage auf, wie legitimiert die Wahlen sind. Immerhin kann ein großer Teil der Ukrainerinnen und Ukrainer nicht abstimmen. Ein anderes Problem kommt noch hinzu: Auch ein gemäßigter Wahlkampf im Krieg gegen Russland könnte sich eher schädlich für die Einigkeit der Gesellschaft auswirken. Zu erwarten wäre deshalb, dass ein großer Teil der Opposition sowie Persönlichkeiten, die nach dem Krieg in der Politik eine Rolle spielen könnten, auf eine Teilnahme verzichten – denn die potenzielle Wählerschaft würde die Kandidatur in Kriegszeiten wohl sehr kritisch sehen.

Ukraine: Kriegsrecht verbietet reguläre Parlamentswahl

Für Selenskyj wären Wahlen im Krieg eigentlich vorteilhaft – immerhin kann er weiterhin auf Vertrauenswerte von mehr als 80 Prozent bauen. Dass er es schafft, solche Werte in der Nachkriegszeit zu erreichen, ist eher unwahrscheinlich. Zudem hat er bereits klargestellt, dass er nach dem Krieg nicht noch einmal kandidieren will. Gibt er den Forderungen aus dem Ausland nach und veranstaltet Wahlen mitten im Krieg, muss er sich zudem von der Opposition vorwerfen lassen, die Gesetze mit Füßen zu treten.

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Aus der ukrainischen Verfassung geht hervor, dass die aktuelle Legislaturperiode im Kriegsrecht automatisch verlängert wird; ein indirektes Verbot für Parlamentswahlen also, das aber vom Verfassungsgericht unterschiedlich bewertet werden könnte. Die ukrainische Verfassung darf während des Krieges eigentlich nicht verändert werden – und die Selenskyj-Partei Diener des Volkes besitzt im Parlament weiterhin die absolute Mehrheit. Zu den Präsidentschaftswahlen steht in der Verfassung zwar nichts, sie werden aber durch die sonstige Wahlgesetzgebung verboten. Und die könnte auch in Kriegszeiten geändert werden.

„Zumindest die Frage der Präsidentschaftswahlen bleibt offen und wird eher gegen das Ende des Jahres entschieden“, erklärt der Politologe Wolodymyr Fessenko, der gute Kontakte in das Umfeld von Selenskyj hat. „Die Wahlen jetzt und heute auszutragen, wäre unnötig und gefährlich, das ist die Mehrheitsmeinung. Wie die Lage dann in zwei oder drei Jahren aussieht, ist eine andere Frage.“ Fessenko vertritt eine klare Meinung: „Es würde sofort Wahlen geben, wenn der Krieg vorbei ist. Aber auch falls sich die Kampfhandlungen zu einem Stellungskrieg wie zwischen 2015 und 2021 im Donbass entwickeln, gibt es Möglichkeiten.“

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Auch in Russland hätten die Präsidentschaftswahlen eigentlich nicht stattfinden dürfen. Der ursprünglichen Gesetzgebung zufolge durften föderale Wahlen nur solange ausgetragen werden, wie lediglich in einer Region das Kriegsrecht herrscht – doch in vier der teils annektierten ukrainischen Bezirke ist das bereits jetzt der Fall. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte allerdings im Eiltempo die Grundlagen dafür geschaffen, dass die Wahlen dennoch stattfinden können. „Alle wissen zwar, dass es keine echten Wahlen sind“, betont Fessenko. „Doch im Westen bereitet es dennoch einigen Sorge, wenn Russland Wahlen abhält und die Ukraine nicht.“