Berlin/Moskau. Seit Beginn des Angriffskriegs in der Ukraine isoliert sich der russische Präsident immer stärker. Von „Putin-Paranoia“ ist die Rede.

Ein feindlicher Drohnenangriff, der den russischen Präsidenten zum Ziel gehabt haben könnte: Die Bilder vom Feuerball über dem Kreml, die jüngst um die Welt gingen, scheinen Wladimir Putin recht zu geben. Aufgeklärt ist bislang zwar nichts.

Dennoch wirkt Putins „Sicherheitswahn“ in diesen Tagen nicht mehr ganz so abwegig. Ist es nicht verständlich, dass der Kremlchef lieber mit einem gepanzerten Zug unterwegs ist als im Hubschrauber? Oder dass er Speisen vorkosten lässt, im Freien eine schusssichere Weste trägt und über drei identisch eingerichtete Arbeitszimmer verfügt – in Moskau, Sotschi und Sankt Petersburg. Damit seine Gegner, die ihn angeblich tot sehen wollen, nie wissen, wo er sich gerade aufhält.

Oder ist das doch alles „Putin-Paranoia“, wie Kritiker spotten? Am meisten gerätselt und gewitzelt worden ist zuletzt über die Doppelgängertheorie. Demnach verfügt der Präsident gleich über mehrere Doubles, die öffentliche Auftritte simulieren. Vor allem angebliche Reisen ins ukrainische Kriegsgebiet sorgten für Spekulationen.

Ukraine-Krieg: Angeblich hat Putin„krankhafte Angst um sein Leben“

Der einflussreiche russische Militärblogger Igor Girkin gab trocken zu Protokoll: „Wenn ich einen Putin mit fremden Menschen sehe, weiß ich sofort, dass es ein Doppelgänger ist.“ Und nach dem vermeintlichen Drohnenangriff auf den Kreml höhnten russische Oppositionelle bei Twitter: „Schade, nicht einen einzigen Putin hat es erwischt.“

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Dabei gibt es keine Beweise für Täuschungsversuche dieser Art. Plausibel ist vieles dennoch, wenn man das Offensichtliche ins Kalkül zieht. Vor Putins jüngstem Auftritt in Wolgograd etwa, dem früheren Stalingrad, wurden die Gehwegplatten erneuert, damit der Präsident nicht stolpert. Für Aufsehen sorgte zudem der Bericht eines Überläufers. Gleb Karakulow, ein Offizier der Kremlgarde, floh in die Türkei und gab dort ein Interview. Darin schildert er, dass Putin in den vergangenen Jahren „in einem Informationskokon gelebt hat“. Der Präsident habe „die meiste Zeit in seinen Residenzen verbracht, die manche Medien treffend als Bunker bezeichnen. Vor allem habe Putin „krankhafte Angst um sein Leben“.

Ist das Wladimir Putin, der im März Mariupol besucht, oder ein Doppelgänger? Der einflussreiche russische Militärblogger Igor Girkin sagt:„Wenn ich einen Putin mit fremden Menschen sehe, weiß ich sofort, dass es ein Doppelgänger ist.“
Ist das Wladimir Putin, der im März Mariupol besucht, oder ein Doppelgänger? Der einflussreiche russische Militärblogger Igor Girkin sagt:„Wenn ich einen Putin mit fremden Menschen sehe, weiß ich sofort, dass es ein Doppelgänger ist.“ © picture alliance/dpa/Russian President Press Office | Russian President Press Office

Putin besitzt kein Smartphone

Daran hat offenbar auch das Ende der Corona-Pandemie nichts geändert. Jeder, der den Präsidenten persönlich treffen wolle, müsse vorher zwei Wochen in Quarantäne, berichtet Karakulow. Doch damit nicht genug der Selbstisolation. Putin besitze kein Smartphone, nutze das Internet nicht und lasse sich nur von engen Vertrauten informieren. All das fügt sich in das gängige Bild vom früheren Geheimdienstchef. Alte KGB-Schule. Daran mag manches überzeichnet sein. Allerdings verdichten sich die Hinweise, dass Putin tatsächlich „in einer anderen Welt lebt“, wie es Angela Merkel schon 2014 gesagt haben soll.

Das vom Kreml zur Verfügung gestellte Foto soll zeigen, wie der russische Präsident Wladimir Putin im April das Hauptquartier der Militäreinheit in Dnipro im Bezirk Cherson besucht.
Das vom Kreml zur Verfügung gestellte Foto soll zeigen, wie der russische Präsident Wladimir Putin im April das Hauptquartier der Militäreinheit in Dnipro im Bezirk Cherson besucht. © picture alliance / newscom | Kremlin Pool

Die damalige Kanzlerin hatte nach der Krim-Annexion zunehmend Zweifel bekommen, ob Putin „noch Kontakt zur Realität hat“. So zumindest berichteten es Medien in den USA unter Berufung auf Quellen im Weißen Haus. Besser geworden sein dürfte es seither nicht. Im Gegenteil. Seit der russischen Invasion in der Ukraine mehren sich die Anzeichen, dass Putin nicht nur abgeschottet lebt, sondern auch in einer Art mentalem Bunkermodus handelt.

Putin ging von einem schnellen Triumph aus

Westliche Geheimdienste berichten regelmäßig, dass der 70-Jährige fast nur noch Informationen zur Kenntnis nimmt, die seine Weltsicht bestätigen. Und das betrifft offenbar auch die Lage an der Front, die für die Truppen aus Russland deutlich schlechter sei, als Putin dies wahrhaben wolle. Auch deshalb zeige der Präsident keinerlei Bereitschaft zu Verhandlungen.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Der kremlkritische Moskauer Soziologe Grigori Judin erklärt das mit der gleichsam einbetonierten Überzeugung des Kremlchefs, sich in einem existenziellen Endkampf mit dem Westen zu befinden. Dieser unbedingte Wille zum Sieg wiederum, sagen Militärfachleute, schade der Armee auf dem Schlachtfeld.

Der ehemalige deutsche Nato-General Erhard Bühler spricht von „unrealistischen politischen Vorgaben“. Die Konsequenz: Statt das militärisch Sinnvolle zu tun, reiben sich russische Einheiten im Kampf für die Putin-Pläne auf. Beispiele dafür gibt es seit Beginn des Krieges genug. Schon die Invasion selbst mit dem Ziel des Regimewechsels in Kiew entpuppte sich als fundamentale Fehlkalkulation. Weil seine Berater ihm offenbar nur sagten, was er hören wollte, ging Putin von einem schnellen Triumph aus.

Warten auf die Gegenoffensive in Cherson

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    Prigoschin warnt vor militärischer Katastrophe

    Aus Frustration über ausbleibende Siege setzte Putin innerhalb des ersten Kriegsjahres gleich auf drei Oberbefehlshaber. Es fehlte an Kontinuität und einer klaren Strategie. Das Resultat lässt sich in Bachmut beobachten. Putin stellte seinen Truppen immer wieder neue Ultimaten. Die extrem hart umkämpfte Stadt sollte erst bis Ende September 2022, dann bis zum Ende des Winters und schließlich im April 2023 erobert sein. Danach sollte jeweils der gesamte Donbass unter russische Kontrolle gebracht werden. Doch für Putins Vorgaben fehlten die Voraussetzungen. Der Sieg gegen einen bedingungslos verteidigenden Gegner ließ sich nicht von oben befehlen.

    Inzwischen fordert sogar Jewgeni Prigoschin, an der Front mehr Vernunft walten zu lassen. Der Chef der Söldnerarmee Wagner ermahnte Putin zuletzt öffentlich, die eigenen Verteidigungslinien zu stärken. Sonst drohe Russland angesichts der erwarteten ukrainischen Frühjahrsoffensive eine militärische Katastrophe und letztlich der Untergang. Allerdings ist unklar, ob Prigoschin, der viele Jahre als enger Vertrauter des Präsidenten galt, überhaupt noch Zugang zu den wichtigsten Machtzirkeln hat. Aber selbst dort, im Innersten des Kremls, kreist ohnehin alles um Putin.

    LandUkraine
    KontinentEuropa
    HauptstadtKiew
    Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
    Einwohnerca. 41 Millionen
    StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
    RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
    Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
    SpracheUkrainisch
    WährungHrywnja