Berlin. Der ukrainische Präsident will nach Deutschland kommen. Seine Wunschliste ist lang. Offen ist, ob die Visite wie geplant stattfindet.

Ist es Mut, Tollkühnheit oder Verzweiflung? Die Europa-Tournee des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj kommt zu einem Zeitpunkt, an dem sich der russische Angriffskrieg zuspitzt und möglicherweise in eine entscheidende Phase tritt.

Nach der äußerst dubiosen Drohnenattacke auf den Kreml poltern die Hardliner in Moskau gegen die vermeintlichen Drahtzieher in Kiew. Vieles spricht dafür, dass die russische Regierung den Angriff inszeniert hat, um die eigene Bevölkerung kurz vor dem 78. Jahrestag des „vaterländischen Sieges“ gegen die Nazis aufzurütteln: Der Krieg des Westens gegen Russland erfordere die volle Verteidigung, lautet das Propaganda-Narrativ.

Fast jeden Tag entgleisen Güterzüge und werden Ölraffinerien in Brand gesetzt

Denn Tatsache ist, dass der Krieg für Russland nicht gut läuft. Die Ukrainer wiederum – so scheint es – bereiten ihre angekündigte Frühjahrsoffensive mit Sabotage-Akten vor. Fast jeden Tag entgleisen Güterzüge und werden Ölraffinerien nahe der Grenze zu Russland in Brand gesetzt. Selenskyj steht unter Druck: Vom Erfolg der Gegenoffensive hängt ab, ob Amerikaner und Europäer weiter in vollem Umfang Waffen und Munition liefern.

Mitten in dieser aufgewühlten Kriegslage reist der ukrainische Präsident quer durch Europa. Selenskyj hat drei Erwartungen: Er will die weitere Entsendung von Militärgerät sichern und beim ukrainischen Wunsch nach dem Beitritt zu EU und Nato Tempo machen.

Michael Backfisch, Politik-Korrespondent
Michael Backfisch, Politik-Korrespondent © Reto Klar | Reto Klar

Die Schlacht zwischen der Ukraine und Russland weist über beide Länder hinaus

Moralische Rückendeckung bekommt der ukrainische Staatschef durch die Verleihung des Karlspreises am 14. Mai in Aachen. Die Auszeichnung, die für Verdienste um Europa und die europäische Einigung verliehen wird, wertet die Ukraine auf: Ihr Kampf für die eigene Unabhängigkeit und Souveränität gegen Russlands Invasion und Unterdrückung ist auch eine Verteidigung europäischer Werte.

Europa ist zwar nicht Kriegspartei, aber die Schlacht zwischen der Ukraine und Russland weist über beide Länder hinaus. Auf europäischem Boden finde „ein Kampf zwischen Autokratie und Demokratie“ statt, formuliert es EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen.

Der Prozess für eine Aufnahme der Ukraine in die EU wird Jahre dauern

Um konkrete Beitritts-Perspektiven für EU und Nato wirbt Selenskyj auch bei seinem für den Mitte Mai vorgesehenen Besuch in Berlin. Ob die Visite allerdings wie geplant stattfindet oder verschoben wird, ist noch in der Schwebe: Offenbar sickerten aus der Berliner Polizei sicherheitsrelevante Details vorab nach außen. In Kiew ist man fassungslos und verstimmt über diese Informationspolitik. Das Landeskriminalamt ermittelt wegen des Verdachts auf Geheimnisverrat.

Sollte der ukrainische Präsident aber nach Berlin kommen, dürfte er mit warmen Worten der Unterstützung überhäuft werden – gepaart mit Versprechen über umfangreichen Hilfen beim Wiederaufbau.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Doch in der Bundesregierung gilt, wie in den meisten Hauptstädten der EU: Der Prozess für eine Aufnahme in die Europäische Union wird Jahre dauern und ist an die Erfüllung zahlreicher Kriterien gekoppelt. Das trifft noch viel mehr auf eine Mitgliedschaft in der Nato zu.

Scholz ist mit der Leopard-Entscheidung vom Bremser zum Schrittmacher geworden

Gleichwohl dürfte Selenskyjs Berlin-Visite politisch in guter Atmosphäre stattfinden. Der Ballast rund um die in der deutschen Politik lange gehegte Illusion vom „Wandel durch Handel“ im Verhältnis zu Russland ist abgelegt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat ebenso wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dem Phantom der Erdgas-Pipeline Nordstream 2 abgeschworen.

Scholz ist mit seinem Ja zur Lieferung von Leopard-Kampfpanzern an die Ukraine vom Bremser zum Schrittmacher in Europa geworden. Dennoch bleibt: Selenskyjs Wünsche sind größer als das, was ihm die Bundesregierung derzeit bieten will und kann.