Berlin / Moskau. Russland führt in der Ukraine nicht nur Krieg. Die Berichte über Gräueltaten offenbaren laut Experten eine routinierte Gewaltkultur.

Man muss diesen Text doch besser mit einer Warnung beginnen. Mit dem Hinweis, dass darin Gewaltszenen vorkommen, die nicht für alle Menschen leicht zu verdauen sind. Muss man sie dann überhaupt schildern?

Der russische Historiker Sergei Medwedew formuliert es so: „Was in der Ukraine passiert, ist eine Orgie epischer, entgrenzter Gewalt. Mit bestialischer Folter und Massenerschießungen, zum Spaß, aus Langeweile, mit Vergewaltigungen und Morden an Eltern vor ihren Kindern und umgekehrt.“ Es sei für ihn unerträglich, über die Massaker zu lesen, die seine Landsleute in Butscha, Irpin und andernorts verübt haben. „Aber es ist nötig, im Versuch zu verstehen, woher dieses archaische Böse kommt.“

Russland in der Ukraine: von Vorschlaghammer bis Verbluten

Zum Beispiel die Idee, einen Kriegsgefangenen zu knebeln und mit einem Teppichmesser zu kastrieren. Oder einen anderen zu fesseln, ihm ins Bein zu schießen und ihn verbluten zu lassen. Oder einen „Verräter“ mit dem Vorschlaghammer hinzurichten, ihm den Schädel zu zertrümmern. Oder den Kopf eines Toten auf einem Gartenzaun zu „pfählen“.

Es gibt zahllose Berichte über Gräueltaten dieser Art. Nicht immer ist die Echtheit zweifelsfrei nachzuweisen. Aber wer den Blick weitet, kann den Vernichtungswillen nicht übersehen, mit dem die russische Armee in der Ukraine Krieg führt. Etwa wenn Raketen Wohnblocks treffen oder Bahnhöfe, auf denen Frauen und Kinder auf ihre Evakuierung warten. Oder Theater, Einkaufszentren und sogar Krankenhäuser.

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Das Ziel ist Angst

Es sind nicht einzelne Soldaten, die im Alptraum des Krieges plötzlich durchdrehen. Die Brutalität hat Methode. Jewgeni Prigoschin zum Beispiel, Chef der berüchtigten Söldnergruppe „Wagner“ und Vertrauter von Wladimir Putin, bekennt sich offen zu den Hinrichtungen mit dem Hammer. Das Ziel ist Angst.

Der Terror soll Gegner lähmen, auch in den eigenen Reihen. Putin selbst drohte der Ukraine schon vor dem Krieg im Tonfall eines Vergewaltigers: „Du wirst dich fügen müssen, meine Schöne.“ Der kremlkritische Historiker Medwedew zieht daraus den Schluss, dass „die Massaker in der Ukraine weder Exzess noch Pathologie sind. Sie sind Teil der Norm, Routine im russischen Gewaltapparat.“

Statistik zeigt: Hemmschwelle ist niedrig

Demnach reicht die von Putin geschaffene Vertikale der Macht bis in den letzten Winkel des riesigen Landes und entfaltet dort ihre zerstörerische Wucht: „Die Gewalt ist den Menschen in Fleisch und Blut übergegangen, sie ist zum Erkennungscode einer Gesellschaft geworden, die auf Unterwerfung gründet, in der die Macht über dem Recht steht.“ Familienväter prügeln, Jugendbanden erpressen an Grundschulen Schutzgelder, Polizisten foltern.

Wie niedrig die Hemmschwelle ist, zeigt die Statistik. So lag die Mordrate in Russland im Durchschnitt der 2010er Jahre bei knapp elf Fällen je 100.000 Einwohner. In der EU waren es 0,7 Tötungsdelikte und in den USA mit ihren lockeren Waffengesetzen 5,1.

Im Kriegsjahr 2022 schnellte die Zahl der Straftaten in Russland, bei denen Waffen zum Einsatz kamen, noch einmal um 30 Prozent in die Höhe. Zu den Tätern gehören besonders oft Heimkehrer von der Front. Die Armee gilt ohnehin als Hort der Gewalt. Der harmlose Begriff „Dedowschtschina“, die Herrschaft der Großväter, beschreibt die gezielte Misshandlung von Rekruten durch ältere Soldaten.

Noch ausgeprägter ist die Gewaltkultur in Gefängnissen und Straflagern, wo die Insassen ihren Peinigern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Bei „Wagner“ mischen sich beide Gruppen. Prigoschin rekrutiert seine Söldner am liebsten in Haftanstalten, unter Mördern und Vergewaltigern. Wer im Krieg überlebt, dem winkt eine Amnestie.

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Rückkehr zu Wertvorstellungen aus Sowjetzeiten

Die Chancen sind minimal. Denn Prigoschin, der einst selbst neun Jahre im Gefängnis saß, „verheizt“ seine Kämpfer, um gegnerische Stellungen aufzuspüren. Längst macht in der Armee das Wort von den „Einwegsoldaten“ die Runde. Und Putin lässt Prigoschin nicht nur gewähren. Er setzt gezielt auf Terror als Mittel der Kriegführung – wie auch der Politik. Studien schon aus den frühen Jahren seiner Präsidentschaft zeigen eine Rückkehr zu Wertvorstellungen aus Sowjetzeiten. Die Verehrung von Größe und Macht, die Glorifizierung der Vergangenheit und nicht zuletzt die wachsende Bewunderung für Diktator Josef Stalin zeugten „klar von einer totalitären Einstellung“, bilanziert die Publizistin Masha Gessen.

Dahinter scheint die extreme Gewaltgeschichte auf, die fast das gesamte 20. Jahrhundert in Russland geprägt hat. Sie reicht vom Ersten Weltkrieg und dem blutigen Bürgerkrieg über Stalins Großen Terror, den Gulag und den Zweiten Weltkrieg bis zu den postsowjetischen Mafiakämpfen der 90er Jahre. Unter dem Strich stehen Dutzende Millionen Tote.

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Die Wurzeln liegen im Stalinismus

Wichtiger noch ist aber die Frage nach dem Wie des massenhaften Mordens. Der Berliner Historiker und Gewaltforscher Jörg Baberowski sieht die Wurzeln dessen, was sein Kollege Medwedew „das archaische Böse“ nennt, vor allem im Stalinismus. Der Krieg des Staates gegen die eigene Bevölkerung habe selbst in entlegenen Regionen „die Saat des Hasses“ gestreut.

Die Folgen sind bis heute zu besichtigen. „Es ist leicht, die Gewalt sprechen zu lassen, aber es ist unendlich schwer, ihre sozialen und psychischen Folgen zu bewältigen“, resümiert Baberowski. So gesehen ist Putins Russland vor allem ein schwer traumatisiertes, ein krankes Land.

Ist Heilung möglich? Ja, glaubt Baberowski, aber das sei „eine Jahrhundertaufgabe“. Und klar ist auch: Der Angriffskrieg in der Ukraine reißt neue Wunden auf. Zuallererst natürlich im überfallenen Nachbarland, aber auch in Russland selbst. Eine Genesung macht das nicht leichter.