Berlin . Nach bald sechs Monaten Ukraine-Krieg wird das ganze Ausmaß des russischen Abenteuers sichtbar. Selbst in Moskau werden Zweifel laut.

  • Seit fast sechs Monaten kämpft Russland offiziell gegen die Ukraine
  • Nichts ist aus dem Ziel von Wladimir Putin geworden, die Ukraine innerhalb kürzester Zeit einzunehmen
  • Nun wächst der Druck auf Putin: Immer mehr Experten äußern Zweifel

Der Ukraine-Krieg hält bald sechs Monate an, auf den Tag genau am 24. August – am Unabhängigkeitstag in Kiew. Mehr denn je: ein Tag der nationalen Selbstbehauptung. Präsident Wolodymyr Selenskyj wird sich siegessicher geben. Es wäre nicht das sprichwörtliche Pfeifen im Wald.

Westliche Geheimdienste – der Bundesnachrichtendienst tanzt aus der Reihe – sehen den Angriffskrieg an einem kritischen Punkt. Ist er verpufft?

Auffällig ist, dass russische Experten zunehmend kein Blatt vor dem Mund nehmen, nicht nur Blogger und Veteranen. Zuletzt ließ Ruslan Pukhow in einem Interview mit dem russischen Beratungsunternehmen PRISP aufhorchen. Er ist in Moskau immerhin Direktor des Zentrums für die Analyse von Strategien und Technologien. Ein Kenner der Armee.

Ukraine-Podcast mit Jan Jessen: So fühlt sich Krieg an

Ukraine-Krieg: Ist die westliche Technologie überlegen?

Seine Insidersicht ist, je nach Blickwinkel, bemerkenswert bis schockierend. In dem Interview warnte er, "wir haben viel zu wenig Infanterie-Soldaten“. Die Frontlinie sei groß, die Truppen nicht ausreichend, die Panzer veraltet, die Waffen unpräzise.

Das lässt sich nicht länger ignorieren seit die USA der Ukraine hochpräzise Himars-Raketenwerfer mit großer Reichweite liefern. Die Himars-Lieferung mache die Probleme akuter, so Pukhow. „Wir schießen Hunderte, ja Tausende, ungelenkte Geschosse irgendwo hin. Die sind billig, treffen aber eben auch kaum. Zwei hochpräzise Geschosse des Gegners richten deutlich mehr Schaden an."

Die Ukrainer kämpfen seit acht Jahren, ihre Artillerie sei sehr erfahren. "Wir hingegen haben unsere Artillerie nur sehr selten auf Schlachtfeldern eingesetzt.“ Zum Ende des Sommers könne die Situation "dramatisch" werden. "Wir mobilisieren zu wenig Soldaten. Und kämpfen gegen eine Armee, die jetzt schon die vierte Mobilisierungswelle erlebt. Die haben keine Knappheit an Kämpfern."

Ukraine-Krieg: Wie in einem Gladiatorenkampf

Die Streitkräfte der Ukraine seien größtenteils eine Armee aus Infanterie und Artillerie, "unsere Streitkräfte nutzen gepanzerte Fahrzeuge." Puchow vergleicht es mit einem Gladiatorenkampf: "Der eine kämpft mit einem Kurzschwert und einem Schild, der andere mit einem Dreizack und einem Netz." Im Klartext: unterschiedlich bewaffnet.

Zwar schreitet die russische Offensive in der Ostukraine wie ein zäher Lavastrom voran, eine Vielzahl von Geschossen schlug erst in der Nacht zu Mittwoch in Charkiw ein. Aber der Effekt westlicher Waffen zeigt sich im Süden, wo die Ukrainer mit gezielten Schlägen die Nachschubwege der Russen westlich des Dnjepr kappen. Waffen- und Munitionslager, Kommandostände und Nachschubrouten können nun aus größerer Entfernung zerstört werden; selbst auf der Krim, wo die Russen in den letzten Tagen spektakuläre Rückschläge erlitten haben.

Mit dem Kriegsverlauf in der Ukraine kann Kremlchef Wladimir Putin unmöglich zufrieden sein.
Mit dem Kriegsverlauf in der Ukraine kann Kremlchef Wladimir Putin unmöglich zufrieden sein.

Theoretisch geht es darum, ob die Kraft des Angriffs abnimmt; ob die russischen Streitkräfte nach dem berühmtesten aller Militärwissenschaftler, nach Carl von Clausewitz, den „Kulminationspunkt des Angriffs“ erreicht haben. Salopp gesagt: Ob ein Wendepunkt ansteht.

Ukraine-Krieg: Politologe sieht bei Putin neue Strategie

Der US-Militärblogger "Jomini of the West" twittert, auf dem Schlachtfeld verschiebe sich die militärische Initiative, von Russland zur Ukraine. Die nächsten Wochen könnten sich als ebenso kritisch erweisen "wie die frühen Tages des Krieges." Auch für den britischen Geheimdienst steht der Krieg vor einer neuen Phase. Auf dem Aspen Security Forum im US-Bundesstaat Colorado sagte MI6-Chef Richard Moore schon vor Wochen über die Russen, "ich glaube, dass ihnen bald die Luft ausgeht".

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Der amerikanische Historiker Timothy Snyder von der Yale-University hat in seinen Blogs und in Tweets vielfach erklärt, warum er die Russen aus vielen Gründen auf der Verliererstraße sieht:

  • Weil der angestrebte Blitzsieg ausgeblieben ist;
  • die Kampfmoral leidet;
  • die westlichen Sanktionen "Wirkung entfalten“;
  • die Ukraine auf eigenem Gebiet logistisch im Vorteil sei;
  • und westliche Waffenlieferungen anhalten.

Die Frage ist indes, ob die Kritik, gerade die aus den eigenen Reihen, Kremlchef Wladimir Putin erreicht – und wie er reagieren wird. Der Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, Joachim Krause, traut ihm einen Strategiewechsel zu: ein Verhandlungsangebot.

"Man merkt von Woche zu Woche, wie die Optionen der Russen geringer werden", sagte der Politikwissenschaftler unserer Redakltion. "Wenn ich Putin wäre, würde ich versuchen, aus einer Situation herauszukommen, die von Tag zu Tag schwieriger wird."

Die russischen Streitkräfte seien weitgehend eine Berufsarmee, die inzwischen ziemlich ausgedünnt sei. "Von anfangs 200.000 Soldaten sind mehr als 80.000 getötet, verwundet, desertiert oder gefangen genommen worden. Das sind für Putin unangenehme Nachrichten", so Krause. "Für ihn gibt es keine Aussicht mehr, dass dieser Krieg mit einem Sieg zu seinen Bedingungen endet." Die Russen würden diesen Krieg nicht mehr lange durchhalten können.

Ukraine-Krieg: "Putin ist gescheitert"

Die Suche nach Freiwilligen ist schwierig. Putin könnte allerdings eine Generalmobilmachung anordnen. Dann hätte er genug Soldaten. Aber den Schritt scheint er innenpolitisch zu scheuen. Offiziell führt Russland nicht mal einen Krieg. Bloß eine militärische Spezialoperation.

Wenn die Bundesregierung die Ukraine zu einem Waffenstillstand zu Putins Bedingungen dränge, wäre für den Kremlchef viel gewonnen, meint Krause, der die Mahnung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron nicht teilt, den Mann in Moskau nicht zu demütigen. Putin sei gescheitert. Ein Ende der Sanktionen dürfe nur erfolgen, wenn er sich aus der ganzen Ukraine zurückziehe "und der Ukraine kein weiterer Krieg droht."

Selenskyj wird es zu gern hören. Der vielstimmige Meinungsumschwung kommt wie bestelltzum Unabhängigkeitstag.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf www.morgenpost.de