Brüssel. Sicherheitsbehörden schlagen Alarm: An die Ukraine gelieferte Waffen werden in die Hände von Verbrecherbanden in Europa gelangen.

Es ist der Albtraum der Sicherheitsbehörden: Aus dem Ukraine-Krieg gelangen modernste Waffen, die der Westen geliefert hat, in die Hände von Kriminellen und werden auf dunklen Wegen an organisierte Banden überall in Europa geliefert. Im verborgenen Teil des Internets gibt es bereits entsprechende Angebote: Tragbare Panzerabwehrraketen vom Typ Javelin für 30.000 Dollar werden im Darknet ebenso angepriesen wie amerikanische Kamikaze-Drohnen für 7000 Dollar, Gewehre, schusssichere Westen oder Handgranaten.

Bislang ist für Ermittler nicht in jedem Fall klar, welche der Offerten einen realen Hintergrund hat und welche nicht – durchaus möglich, dass aktuell auch noch russische Desinformanten ihre Hände im Spiel haben, wie es in EU-Sicherheitskreisen heißt. Doch dass es einen schwunghaften Waffenhandel früher oder später tatsächlich geben wird, steht für die Spitzen europäischer Sicherheitsbehörden fest.

Die Sorge ist entsprechend groß: Während öffentlich in Europa bislang vor allem diskutiert wird, welche Waffen noch an die Ukraine geliefert werden könnten, fürchten Polizeiexperten den kriminellen Transport von Gewehren, Pistolen, Granaten, Kampfdrohnen oder modernen Panzerfäusten in der Gegenrichtung.

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EU-Innenkommissarin: Wir müssen vorbereitet sein auf den Waffenschmuggel

EU-Innenkommissarin Ylva Johansson schlug beim jüngsten Treffen der EU-Innenminister Alarm: Es gebe bereits erste Hinweise auf Waffenschmuggel, warnte die Schwedin. „Wir wissen ja, wie viele Waffen in der Ukraine sind und dass sich nicht immer alle in den besten Händen befinden.“ Und man wisse aus Erfahrung, dass Feuerwaffen während eines Krieges oder danach außer Landes geschmuggelt werden. „Deshalb müssen wir vorbereitet sein, um uns davor zu schützen“, sagt Johansson.

Die EU-Polizeibehörde Europol informierte schon vor Wochen die nationalen Dienststellen, dass der Waffenschmuggel in die EU bereits begonnen habe und eine potenzielle Bedrohung für die europäische Sicherheit darstelle.

Sorge macht etwa, dass die Regierung in Kiew nach Beginn des russischen Angriffs zehntausende Gewehre an die Bürger ausgegeben hat, aber nur zu Anfang die Registrierung gewährleisten konnte – im Verlauf des Krieges seien die Schusswaffen auch ohne Dokumentation an die Bevölkerung verteilt worden. Europol baut nun eine internationale Expertengruppe auf, die Strategien zur Gefahrenabwehr entwickeln soll.

Die EU-Grenzschutztruppe Frontex überwacht aus diesem Grund bereits verstärkt die Grenze zwischen der Ukraine und Moldau. „Wir glauben, dass dort die geschmuggelten Waffen hauptsächlich ankommen“, sagt die amtierende Frontex-Direktorin Aija Kalnaja. Es gebe ein „sehr reales Risiko“, doch Frontex sei vorbereitet, den Schmuggel zu stoppen.

Zwei ukrainische Soldaten halten in Rudnyzke eine Panzerfaust, während weitere die Szene beobachten. Auch solche Waffen werden jetzt bereits im Internet illegal zum Verkauf angeboten.
Zwei ukrainische Soldaten halten in Rudnyzke eine Panzerfaust, während weitere die Szene beobachten. Auch solche Waffen werden jetzt bereits im Internet illegal zum Verkauf angeboten. © dpa | Andrea Filigheddu

Der Chef von Interpol, Jürgen Stock, klingt noch besorgter: „Wir sollten alarmiert sein. Sobald nicht mehr geschossen wird, werden die illegalen Waffen kommen.“ Aktuell seien Kleinwaffen die größte Sorge, doch prinzipiell seien Kriminelle an jeder Art von Waffen interessiert. Sie würden versuchen, die chaotische Situation auszunutzen und auch schwere Waffen aus der Ukraine heraus zu schmuggeln.

Nicht nur die Nachbarstaaten der Ukraine in Europa seien betroffen, sondern auch andere Kontinente, denn die kriminellen Gruppen agierten auf globaler Ebene. Interpol wirbt jetzt dafür, dass Sicherheitsbehörden weltweit die Datenbank der Behörde benutzt, um den Weg von Waffen zu verfolgen und beim Aufspüren von illegalem Handel zu helfen.

Mit Waffen aus dem Jugoslawien-Krieg rüsten Verbrecherbanden auf

Die Sicherheitsexperten sind vor allem deshalb besorgt, weil sie seit vielen Jahren mit einem ähnlichen Problem aus den Jugoslawien-Kriegen in den 90er Jahren zu kämpfen haben. Aus dem ehemaligen Jugoslawien werden bis heute kriminelle Organisationen in ganz Europa mit Waffen versorgt. Verbrecherbanden in Schweden, die sich dort mit Feuerwaffen schwere Straßenkämpfe liefern, beziehen ihre Ausrüstung ebenso vom Balkan wie islamistische Terrorgruppen: Bei den Anschlägen in Paris im November 2015 und beim Überfall auf das Satiremagazin Charlie Hebdo zehn Monate zuvor nutzten die Täter M70-Sturmgewehre aus der serbischen Waffenfabrik Zastava. Der Unterschied zum aktuellen Krieg: In der Ukraine geht es um weit mehr Waffen als einst auf dem Balkan. Und um viel modernere.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Die Regierungen mehrerer Nato-Länder, die Rüstungsgüter an die Ukraine liefern, wurden wegen des Problems bereits in der ukrainischen Hauptstadt Kiew vorstellig. Dass US-Ausrüstung in die falschen Hände gelangen könnte, sei angesichts des schwierigen Kriegsverlaufs Anlass zur Besorgnis, räumte die Expertin für Waffenkontrolle im US-Außenministerium, Bonnie Denise Jenkins, jetzt in Brüssel ein. Washington sei in ständigem Kontakt mit Kiew, damit amerikanische Waffentechnologie vor illegaler Weiterverbreitung geschützt werde.

Die Regierungen der USA und anderer Nato-Staaten drängen darauf, dass die Ukraine ein System zur Nachverfolgung der Waffenlieferungen aufbaut und Inventarlisten verbessert, auch mit westlicher Hilfe. Bislang, heißt es in Brüssel, würden die Waffen bis an die polnisch-ukrainische Grenze geliefert und dort auf Lastwagen verladen – wohin genau die Waffen gebracht und wo sie eingesetzt würden, bleibe dann oft unklar.

Frontex: Waffenschmuggel aus der Ukraine wird ein Problem für Jahrzehnte

Die ukrainische Regierung versichert indes, die Waffentransporte innerhalb der Ukraine würden sehr genau verfolgt. Dass das Land eine Drehscheibe des Waffenschmuggels werde, sei nur russische Propaganda, die der Ukraine schaden solle, versichern Mitarbeiter von Präsident Wolodymyr Selenskij. In der EU beruhigt das allerdings niemanden. Als die Innenminister der Europäischen Union jetzt erstmals über das Problem berieten, hatte die Frontex-Führung eine bittere Botschaft für sie: Der illegale Handel mit Waffen aus der Ukraine werde die europäischen Sicherheitsbehörden „mehrere Jahrzehnte“ lang beschäftigen.