Berlin. SPD und CDU setzen neue Schwerpunkte und grenzen sich wieder mehr voreinander ab. Das lässt weniger Platz an den politischen Rändern.

Irgendwann gibt es einen Punkt, an dem die Schatten der Vergangenheit übermächtig werden, unbehandelte Wunden das Handeln lähmen, der Blick in den Spiegel grausam ist. Was hilft dann? Eine Therapie. Auf die Couch haben sich jetzt die leidenden Volksparteien CDU und SPD gelegt. Ihre Beziehung zu vielen Wählern ist gestört. Ihr über Jahrzehnte gewachsener natürlicher Machtanspruch steht infrage.

Beide Parteien wissen, dass sie handeln müssen, um zumindest in die Nähe früherer Stärke zu kommen. Dass diese Selbsterkenntnis zu Beginn eines Superwahljahres mit der Europawahl und vier Landtagswahlen Raum greift, ist nicht verwunderlich.

Die CDU mit der neuen Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer will jene Identitätskrise aufarbeiten, die sie seit dem Flüchtlingsjahr 2015 mit voller Wucht erfasst hat. Angela Merkels „Wir schaffen das“ war gut gemeint, aber von der Kanzlerin zu schlecht erklärt.

CDU ließ ein Vakuum entstehen, das die AfD nutzte

Die neue CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer.
Die neue CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer. © dpa | Kay Nietfeld

Die gewaltigen Probleme und Herausforderungen bei der Integration Hunderttausender muslimischer Menschen trafen viele Bürger unvorbereitet und lösten vielfältige Ängste aus. In diesem Vakuum konnte die AfD vortrefflich gedeihen und im Osten die Linke als Protestpartei ablösen.

Wenn es Kramp-Karrenbauer im Schulterschluss mit dem neuen CSU-Vorsitzenden Markus Söder gelingt, die Union wieder zur ersten Adresse bei „law and order“ zu machen, Chancen und Risiken von Zuwanderung in Zeiten einer knallharten Globalisierung den Bürgern ehrlich zu erklären, dann könnte der eine prägende Satz, der vom Schall-und-Rauch-Comeback eines Friedrich Merz übrig geblieben ist, die AfD nämlich halbieren zu wollen, in einigen Jahren durchaus in Erfüllung gehen.

SPD-Ideen haben Potenzial

Beim Patienten SPD fällt die Anamnese noch leichter. Hartz IV heißt das unbewältigte Trauma, das die Genossen seit 15 Jahren mit sich herumschleppen. Was Andrea Nahles, Olaf Scholz, Hubertus Heil, Manuela Schwesig und Kevin Kühnert gemeinsam an Reformideen für einen neuen Sozialstaat zusammengetragen haben, kann sich sehen lassen.

Nicht alles, was die SPD bei Grundrente, Bürgergeld statt Hartz IV, Kindergrundsicherung und Recht auf Homeoffice verspricht, ist bezahlbar und gerecht. Die Vorschläge aber haben das Potenzial, dass die SPD sich zumindest mit einem Teil ihrer Kernklientel versöhnen kann, die nach Schröders Hartz-Reformen verstört das Weite gesucht hatte.

Merkel schläferte mit ihrer Taktik die Nation ein

Die harschen Reaktionen von CDU und CSU, die vor einem Untergang der Marktwirtschaft warnen, zeigen übrigens, dass die schwarz-roten Koalitionsspitzen dazugelernt haben. Seit 2005 waren Union und SPD kaum noch unterscheidbar. Die fehlende Polarisierung der Volksparteien stärkte die politischen Ränder.

Angela Merkel hatte kein Problem damit, als sozialdemokratische Kanzlerin wahrgenommen zu werden. Wäre sie heute noch CDU-Chefin, würde sie die SPD-Vorschläge erst einmal geflissentlich ignorieren, sich dann das Beste herauspicken und den Bürgern weismachen, sie sei schon immer dafür gewesen.

Mit dieser Methode schläferte Merkel zum eigenen Machterhalt über Jahre die ganze Nation ein. Die Risiken und Nebenwirkungen in Gestalt der AfD kann sie jede Woche in den Umfragen ablesen.

Dass die Union nun Zeter und Mordio schreit, hilft sowohl der Nahles-SPD als auch der Kramp-Karrenbauer-CDU und der Söder-CSU, wieder sichtbarer zu werden. Eine linkere SPD und eine rechtere Union sind nicht das Schlechteste, was Deutschland gerade passieren kann.