Berlin. SPD-Chefin Nahles will den Sozialstaat „vom Kopf auf die Füße stellen“. Am Sonntag will der Parteivorstand ihre Pläne diskutieren.

SPD-Chefin Andrea Nahles macht Schluss. „Wir wollen Hartz IV hinter uns lassen“, sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die Arbeitsmarktreform Hartz IV, durchgesetzt von Kanzler Gerhard Schröder (SPD), ist für viele Sozialdemokraten für die zahlreichen Wahlniederlagen verantwortlich.

Nahles will Hartz IV durch ein Bürgergeld ersetzen – und das Arbeitslosengeld I für Menschen ab 50 länger zahlen. Das Konzept für eine „Sozialstaatsreform 2025“, das unserer Redaktion vorliegt, soll am Sonntag auf einer Klausur des Parteivorstands beschlossen werden.

Was sieht das Konzept genau vor?

Die neue Grundsicherung soll Bürgergeld heißen. Bei Hartz IV spielen laut Nahles „Druck, Misstrauen und Kontrolle eine viel zu große Rolle“. Mit dem Bürgergeld will sie „das System und den Geist dahinter wieder vom Kopf auf die Füße“ stellen. In einer Übergangszeit von zwei Jahren soll die Angemessenheit der Wohnung nicht infrage gestellt werden. „Unsinnige Sanktionen müssen weg.“

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Als Beispiel nennt Nahles die Sanktionen für Menschen unter 25 Jahren. Mehr Geld soll es nicht geben, um die Motivation der Menschen nicht zu zerstören, „die für wenig Geld jeden Tag zur Arbeit gehen“. Ausnahmen sind spezieller Bedarf wie eine kaputte Waschmaschine. Nahles will auch, dass das Arbeitslosengeld I für Menschen ab 50 Jahren für 33 Monate gezahlt wird. Aktuell gilt dieses Übergangsgeld nur für ein Jahr, ab 58 Jahren für 24 Monate.

Ist überhaupt genug Geld da?

Nahles will die längere Unterstützung über die Arbeitslosenversicherung finanzieren: „Deren Kassen sind voll, das Geld ist da.“ In die Versicherung zahlen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein. Aktuell gibt es laut Bundesagentur für Arbeit eine Rücklage von 23,5 Milliarden Euro. H olger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft warnt vor den Plänen. Am Ende könnten die Beitragszahler zur Kasse gebeten werden.

„Wir haben gerade erst eine Beitragssatzsenkung gehabt“, sagte Schäfer unserer Redaktion. „Dieses Modell könnte in Kürze wieder zu einer Erhöhung führen.“ Ulrich Walwei, kommissarischer Leiter des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, sieht in Nahles’ Konzept keinen Nutzen. „Menschen, die länger Leistungen beziehen, finden nicht schneller eine Arbeit“, sagte Walwei. „Im Gegenteil: Ein längerer Leistungsbezug verlängert die Arbeitslosigkeit.“

Kevin Kühnert über die Hartz IV-Debatte

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    Machen die Koalitionspartner mit?

    Die CSU zeigt klare Kante. „Das Programm von Frau Nahles würde Deutschland zum Sanierungsfall machen“, sagte Generalsekretär Markus Blume. Unions-Fraktionsvize Joachim Pfeiffer (CDU) sieht „völlig falsche Anreize“: Der SPD-Vorschlag sei weder gerecht noch sozial. „Damit würden wir vielmehr ein staatliches Beglückungssystem ohne Arbeitszwang schaffen, mit dem wir wieder nur die Arbeitslosigkeit subventionieren.“

    Was sagt die Opposition?

    Marco Buschmann, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion, kritisiert das Konzept. „Nach Heils Grundrente bereitet die SPD mit längerem Arbeitslosengeld für Ältere das nächste Wahlgeschenk vor“, sagte Buschmann unserer Redaktion. „Dieses Manöver ist so durchsichtig wie unnötig.“ Linke-Chefin Katja Kipping gehen die Ideen dagegen nicht weit genug.

    Gibt es weitere Ideen?

    Die SPD will jedem Arbeitnehmer ein Recht auf Arbeiten zu Hause gewähren. So soll der Anspruch auf Home Office per Gesetz garantiert werden. Das geht aus dem unserer Redaktion vorliegenden Konzeptpapier hervor.

    Aktuell könnten 40 Prozent der Beschäftigten per Internet von zu Hause aus arbeiten, aber nur zwölf Prozent bekämen ihren Wunsch nach flexibler Arbeit von den Arbeitgebern erfüllt, heißt es. Damit die Arbeitszeit nicht ausufert, sollen Arbeitnehmer besser vor einer ständigen Erreichbarkeit durch Vorgesetzte geschützt werden.

    Die Arbeit von zu Hause macht Studien zufolge glücklicher als die Arbeit im Büro – aber auch häufiger krank.

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    Da viele Menschen weniger arbeiten möchten, um mehr Zeit für ihre Kinder, die Pflege von Angehörigen, eine Firmengründung oder zur Erholung zu haben, schlägt die SPD außerdem ein „persönliches Zeitkonto“ für jeden Bürger vor.

    Beschäftigte können auf diesem Zeitkonto Überstunden oder Gutschriften durch Fort- und Weiterbildungen einzahlen und das Guthaben in Freizeit umwandeln. So würden Überstunden mit zur neuen Beschäftigung wandern.

    Zudem sieht das Papier eine Kindergrundsicherung vor: Alle Leistungen sollen zusammengefasst und das System damit vereinfacht werden. Besonders Kinder von Alleinerziehenden sollen profitieren.

    Warum prescht Nahles jetzt vor?

    Die SPD-Chefin steht massiv unter Druck. 2018 gingen die Wahlen in Bayern und Hessen verloren, auch 2019 drohen bei der Europawahl und den drei Landtagswahlen im Osten herbe Niederlagen. Ihre Kritiker wie Ex-Parteichef Sigmar Gabriel halten sich nicht mehr zurück.

    Andrea Nahles: Ihre Karriere in Bildern

    Andrea Nahles war lange die starke Frau der SPD: Seit April 2018 war sie Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands – als erste Frau. Seit September 2017 war sie bereits Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag. Von beiden Ämtern wird sie zurücktreten, wie sie am Sonntag ankündigte. Wir zeigen Bilder aus ihrem politischen und privaten Leben.
    Andrea Nahles war lange die starke Frau der SPD: Seit April 2018 war sie Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands – als erste Frau. Seit September 2017 war sie bereits Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag. Von beiden Ämtern wird sie zurücktreten, wie sie am Sonntag ankündigte. Wir zeigen Bilder aus ihrem politischen und privaten Leben. © dpa | Martin Gerten
    Andrea Nahles wurde am 20. Juni 1970 in Mendig (Rheinland-Pfalz) geboren. Sie studierte Literatur- und Politikwissenschaften und ist seit 1988 Mitglied der SPD. Von 1993 bis 1995 war sie Landesvorsitzende der Jungsozialisten in Rheinland Pfalz. Von 1995 bis 1999 dann Bundesvorsitzende der Jusos.
    Andrea Nahles wurde am 20. Juni 1970 in Mendig (Rheinland-Pfalz) geboren. Sie studierte Literatur- und Politikwissenschaften und ist seit 1988 Mitglied der SPD. Von 1993 bis 1995 war sie Landesvorsitzende der Jungsozialisten in Rheinland Pfalz. Von 1995 bis 1999 dann Bundesvorsitzende der Jusos. © picture-alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / Andreas Altwein
    Andrea Nahles und der damalige SPD-Bundesvorsitzende Oskar Lafontaine im November 1996.
    Andrea Nahles und der damalige SPD-Bundesvorsitzende Oskar Lafontaine im November 1996. © REUTERS /
    Nahles war erstmals von 1998 bis 2002 und ist erneut seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 1997 bis 2013 war sie Mitglied im SPD-Parteivorstand.
    Nahles war erstmals von 1998 bis 2002 und ist erneut seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 1997 bis 2013 war sie Mitglied im SPD-Parteivorstand. © REUTERS /
    Im Mai 2007 wurde Nahles gemeinsam mit Frank-Walter Steinmeier (M.) und Peer Steinbrück vom SPD-Parteivorstand für das Amt der stellvertretenden Parteivorsitzenden nominiert. Am 26. Oktober 2007 wurde sie von 74,8 Prozent der Parteitagsdelegierten in dieses Amt gewählt. Dafür gab es rote Rosen. Das Amt hatte sie von 2007 bis 2009 inne.
    Im Mai 2007 wurde Nahles gemeinsam mit Frank-Walter Steinmeier (M.) und Peer Steinbrück vom SPD-Parteivorstand für das Amt der stellvertretenden Parteivorsitzenden nominiert. Am 26. Oktober 2007 wurde sie von 74,8 Prozent der Parteitagsdelegierten in dieses Amt gewählt. Dafür gab es rote Rosen. Das Amt hatte sie von 2007 bis 2009 inne. © Getty Images | Sean Gallup
    Die praktizierende Katholikin ist Mutter einer Tochter.
    Die praktizierende Katholikin ist Mutter einer Tochter. © Meike Boeschemeyer
    Von ihrem Ehemann – dem Kunsthistoriker Marcus Frings – lebt sie seit Anfang 2016 getrennt.
    Von ihrem Ehemann – dem Kunsthistoriker Marcus Frings – lebt sie seit Anfang 2016 getrennt. © Getty Images | Sean Gallup
    Am 17. Dezember 2013 wurde Nahles von dem ehemaligen Parlamentspräsidenten Norbert Lammert zur Bundesministerin für Arbeit und Soziales vereidigt.
    Am 17. Dezember 2013 wurde Nahles von dem ehemaligen Parlamentspräsidenten Norbert Lammert zur Bundesministerin für Arbeit und Soziales vereidigt. © REUTERS | REUTERS / THOMAS PETER
    Im Bundestagswahlkampf 2017 machte Nahles sich für den damaligen Kanzlerkandidaten Martin Schulz stark.
    Im Bundestagswahlkampf 2017 machte Nahles sich für den damaligen Kanzlerkandidaten Martin Schulz stark. © Getty Images | Carsten Koall
    Seit dem 27. September 2017, drei Tage nach der Bundestagswahl, ist Andrea Nahles Vorsitzende der SPD-Bundesfraktion.
    Seit dem 27. September 2017, drei Tage nach der Bundestagswahl, ist Andrea Nahles Vorsitzende der SPD-Bundesfraktion. © dpa | Bernd von Jutrczenka
    Nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen am 7. Februar gab Schulz seinen Rücktritt vom Parteivorsitz bekannt – und machte den Weg für Andrea Nahles als seine Nachfolgerin frei.
    Nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen am 7. Februar gab Schulz seinen Rücktritt vom Parteivorsitz bekannt – und machte den Weg für Andrea Nahles als seine Nachfolgerin frei. © dpa | Kay Nietfeld
    Es war kein starkes Ergebnis – nur gut 66 Prozent stimmten beim Parteitag am 22. April 2018 für Andrea Nahles als Parteivorsitzende.
    Es war kein starkes Ergebnis – nur gut 66 Prozent stimmten beim Parteitag am 22. April 2018 für Andrea Nahles als Parteivorsitzende. © dpa | Bernd von Jutrczenka
    Damit war Andrea Nahles die erste Frau an der Spitze der SPD. Am Sonntag kündigte sie ihren Rücktritt als SPD-Vorsitzende für den 3. Juni 2019 und als SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende am 4. Juni 2019 an. Außerdem wurde bekannt, dass Nahles in naher Zukunft auch ihr Bundestagsmandat niederlegen und sich komplett aus der Politik zurückziehen will.
    Damit war Andrea Nahles die erste Frau an der Spitze der SPD. Am Sonntag kündigte sie ihren Rücktritt als SPD-Vorsitzende für den 3. Juni 2019 und als SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende am 4. Juni 2019 an. Außerdem wurde bekannt, dass Nahles in naher Zukunft auch ihr Bundestagsmandat niederlegen und sich komplett aus der Politik zurückziehen will. © Reto Klar | Reto Klar
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    Altkanzler Gerhard Schröder bescheinigt ihr sogar, nicht das Zeug zur Kanzlerkandidatin zu haben. In dieser Situation muss Nahles aus der Defensive – und betont: „Wenn ich mir eine Kanzlerkandidatur nicht zutrauen würde, hätte ich mich niemals um das Amt der SPD-Vorsitzenden beworben.“

    Kommentar: Die SPD setzt beim Kampf gegen Armut an der falschen Stelle an