Berlin. Andrea Nahles soll am Dienstag zur kommissarischen SPD-Chefin und Schulz-Nachfolgerin ernannt werden. Kann sie ihre Partei erneuern?
November 1995, SPD-Parteitag in Mannheim. Eine junge Frau tigert auf einem Flur herum. Es ist Andrea Nahles. Die damals 25 Jahre alte Juso-Chefin zupft nervös an ihren langen dunklen Haaren. Gleich wird sie ihre erste Rede auf einem Parteitag halten. Sie wird den SPD-Vorsitzenden Rudolf Scharping hart kritisieren, der dann in der legendären Kampfabstimmung gegen Oskar Lafontaine unterliegt. Als das Ergebnis bekannt wird, springt Nahles auf, jubelt Oskar zu und brüllt: „Jaaaaaa!“ Sie bewies den richtigen Riecher – und setzte auf Lafontaine. Der revanchierte sich mit dem Lob, Nahles sei ein „Gottesgeschenk“ für die Partei.
Die Fernsehbilder sind jetzt 22 Jahre alt. Es lohnt sich, die Mitschnitte aus dem Netz zu kramen. Denn jetzt schließt sich ein Kreis. An diesem Dienstag soll das „Gottesgeschenk“ Nahles auf Vorschlag des noch-amtierenden Martin Schulz in einer Vorstandssitzung in Berlin zur kommissarischen SPD-Vorsitzenden ernannt werden. Es ist eine Zäsur.
SPD wird erstmals von einer Frau geführt werden
Zum ersten Mal in ihrer knapp 155-jährigen Geschichte wird die älteste deutsche Partei von einer Frau angeführt werden. Und Nahles übernimmt das Erbe von Bebel, Schumacher und Brandt an einem Punkt, an dem die Sozialdemokratie im Chaos zu versinken droht.
Macht Nahles das Angst? So wie sie 1995 wild entschlossen ans Rednerpult in Mannheim stürmte, so bewusst ist ihr, was auf sie zukommt. Ihr eng getaktetes Leben als Politikprofi wird sich noch einmal beschleunigen. Da macht sie sich keine Illusionen. SPD-Chefin ist zwar ein Ehrenamt – aber es frisst Zeit, endlos viel Zeit. Jeder Abend und fast jedes Wochenende werden verplant sein. Das Handy wird nie Ruhe geben. Sigmar Gabriel erzählte einmal, er habe an der Spitze der Sozialdemokratie fast acht Jahre lang „Scheiße fressen müssen“.
Nahles ist tief gläubige Katholikin
Als Arbeitsministerin, die den Mindestlohn und die Rente mit 63 durchboxte, versuchte die 47-Jährige, so oft es geht, zu Hause zu sein. In Weiler, einem 475-Seelen-Dorf in der Vulkaneifel in Rheinland-Pfalz, lebt ihre Tochter Ella. Nahles, eine tief gläubige Katholikin, ist seit der Trennung von Ellas Vater vor zwei Jahren alleinerziehend. Ihre Mutter Gertrud kümmert sich unter der Woche um die Achtjährige. Auch „Siebke“ muss versorgt werden – Nahles’ pechschwarzer Friesen-Wallach.
An Weiberfastnacht baute Nahles vor ihrem Haus ihre berüchtigte „Schnapsbar“ auf. Mit den Nachbarinnen wurde ausgelassen geschunkelt. Ins Gesicht malte sich Nahles ein großes Clownsgrinsen, auf dem Kopf trug sie eine rote Perücke. Nahles dachte zufrieden, sie habe in Berlin alles gut eingefädelt. Das Lachen verging ihr.
Gabriel, Nahles’ Erzfeind seit ihrer Zeit als Generalsekretärin im Willy-Brandt-Haus, zog über Schulz („Haare im Gesicht“) her. Die SPD-Basis rebellierte, weil Schulz Außenminister werden wollte. Schulz schmiss hin. Böse Zungen behaupten, Nahles und der kommende Finanzminister Olaf Scholz hätten Schulz ins offene Messer laufen lassen.
Der richtige Moment für die Schulz-Ablösung ist lang vorbei
Dieser Lesart wird widersprochen. Schulz (der nach der Wahl einen Wechsel ins Kabinett ausgeschlossen hatte) habe unbedingt Außenminister werden wollen – trotz ausdrücklicher Warnungen aus der engen Führungsriege, dass die Basis ihm diesen Wortbruch nicht verzeihen werde. Am Dienstag erwarten Nahles im 45-köpfigen Vorstand dennoch nicht nur Nettigkeiten.
Die Parteilinken freuen sich zwar, dass eine der ihren – dabei vertritt Nahles längst eine pragmatische Mitte-links-Politik – an die Spitze rückt. Aber Nahles’ plötzlicher Karrieresprung sieht für manche in der Partei dennoch wie ein „schmutziger Hinterzimmerdeal“ aus. Von einer Direktwahl des Vorsitzes hält Nahles wenig – wer sie herausfordern wolle, sollte sich doch bitte melden, antworten ihre Unterstützer kühl auf entsprechende Fragen.
Vorwerfen lassen muss sich Nahles, gemeinsam mit Scholz den rasanten Niedergang von Schulz zu lange geduldet zu haben. Der richtige Moment, ihn abzulösen, wäre am Wahlabend gewesen. Nun muss es Nahles alleine wuppen, um die Mehrheit der 464.000 Mitglieder vom Koalitionsvertrag und der GroKo zu überzeugen. Schulz wird bei den sieben Regionalkonferenzen, die am Sonnabend in Hamburg und Hannover starten, nicht mehr dabei sein. „Andrea wird volles Rohr geben“, heißt es in der SPD. Das kann Nahles.
Andrea Nahles: Ihre Karriere in Bildern
Den Sonderparteitag drehte Nahles allein Richtung große Koalition
„Ab morgen kriegen sie in die Fresse“, tönte sie nach ihrer letzten Kabinettssitzung als Arbeitsministerin in Richtung der Unionskollegen. Es war ein Witz, aber der flog ihr als flegelhaftes Verhalten um die Ohren. Ein paar Wochen später fiel sie mit diesem Spruch zur GroKo auf: „Das wird ganz schön teuer. Bätschi.“ Den Sonderparteitag in Bonn drehte sie alleine in Richtung große Koalition, als sie den skeptischen Delegierten Verhandlungen „bis es quietscht“ versprach. Das hielt sie ein.
Kann eine wie Nahles, die noch keine 50 ist, aber schon 20 Jahre in den vorderen Reihen mitmischt, die SPD glaubwürdig erneuern?
Ihr Antrieb ist ihr Gerechtigkeitssinn. Am 22. Oktober 1988 trat sie in die SPD ein. Sie war wütend, weil rund um ihr Dorf zwei Müllverbrennungsanlagen gebaut werden sollten. Sie meldete sich in einer Bürgerinitiative an, die SPD machte die Projekte im Stadtrat schließlich platt.
Nahles hat in der SPD nicht nur Unterstützer
Weil es bei ihr keinen Ortsverein gab, gründete sie eben selbst einen. Ihren Eltern war das nicht geheuer: „Wie konnte ich nur eine derartige Unruhe ins Dorf bringen?“ Nun muss Nahles so schnell wie möglich eine Volkspartei beruhigen und der SPD den Glauben an sich selbst zurückgeben.
Nicht jeder wird ihr helfen. Eine Partei vergisst nichts: Nahles war nicht nur beim Sturz Scharpings in Mannheim dabei, sondern quälte auch Gerhard Schröder mit beißender Agenda-Kritik oder trieb Franz Müntefering in den Rücktritt.
Das Königsmörderin-Image (was ihr meist von Männern vorgehalten wird), belegt aber ihre Einzigartigkeit in der SPD. Wie Angela Merkel in der CDU spürt Nahles oft, wenn es um die Macht geht. Deshalb dürfte Nahles auch im Fall Gabriel eiskalt bleiben – und ihn in den Ruhestand schicken.
Nahles muss Bundestagsabgeordnete auf GroKo-Linie bringen
Gewinnt sie den Mitgliederentscheid, muss Nahles dann noch das Kunststück fertigbringen, als Fraktionschefin die Bundestagsabgeordneten auf GroKo-Linie zu trimmen. Als Parteichefin wird sie sich von der Kanzlerin abgrenzen, das Profil der SPD schärfen und auf potenzielle Machtpartner wie Grüne und Linke zugehen müssen.
„30 Prozent plus x“ – dort will Nahles ihre SPD wieder haben. Dass sie dann selbst als Kanzlerkandidatin antreten könnte, gehört mit Sicherheit zu ihren Überlegungen. Noch ist das Zukunftsmusik. Die Volkspartei SPD taumelt in Umfragen Richtung 15 Prozent, die AfD lauert. Nahles ist vielleicht eine der letzten Patronen der Sozialdemokratie. Immerhin: Wo sie ist, knallt es.