Berlin. Kanzlerin Merkel will einen „Aufbruch für Deutschland und Europa“. Mit einer Regierung, die in den nächsten zehn Tagen zustande kommt.

Sie stehen vor einem riesigen blauen Nichts. Angela Merkel, Martin Schulz und Horst Seehofer kommen am Freitagmorgen nacheinander durch den Nieselregen in die CDU-Parteizentrale. Ein einsames Mikrofon wartet auf sie – dahinter eine große blaue Wand. Die wirkt wie eine Projektionsfläche für ein Deutschland, das seit 125 Tagen auf eine Antwort seiner politischen Klasse wartet, wer die Republik wohin führen will.

Angela Merkel, die Hände für die Kameras zur Raute geformt, liefert zum Start der Koalitionsverhandlungen zunächst einen ihrer gewohnt verdrucksten Sätze ab. „Die Menschen erwarten nunmehr wirklich, dass wir in die Richtung einer Regierungsbildung kommen.“ Dann wird sie etwas klarer und mutiger. „Es geht um eine neue Dynamik für Deutschland. Es geht nicht nur um einen Aufbruch für Europa, sondern auch um einen Aufbruch für Deutschland.“

Die große Schlussrunde ist für den 4. Februar angesetzt

Die gerade aus Davos zurückgekehrte CDU-Vorsitzende spürt, dass die Geduld nicht nur in Europa, sondern auch in den eigenen Reihen und in der Bevölkerung ausgereizt ist. Diese Einsicht führt nach knapp fünf Stunden zu einem ersten Erfolg. Schwarz-Rot will Tempo machen.

Schon in zehn Tagen soll ein Koalitionsvertrag fertig sein. Geplanter Umfang: etwa 80 bis 100 Seiten. Die große Schlussrunde ist für den 4. Februar angesetzt – auf Betreiben der SPD mit einem Puffer von zwei Tagen, falls es doch noch „quietscht“, wie von SPD-Frontfrau Andrea Nahles angedroht.

In Umfragen rutscht die SPD noch weiter nach unten

Kulinarisch wird im Konrad-Adenauer-Haus leichte Küche gereicht – Hühnchen und Gemüsesuppe. Mancher Sozialdemokrat ist vom Catering in Merkels Hauptquartier zwar nicht besonders angetan – umgekehrt schmeckte auch nicht jedem Unionsvertreter die Currywurst beim 24-Stunden-Sondierungsfinale im Willy-Brandt-Haus.

Auf beiden Seiten wird hervorgehoben, wie ernsthaft alle Unterhändler inhaltlich unterwegs seien. SPD-Verhandler erzählen, die Vertreter von CDU und CSU wirkten nach dem Jamaika-Trauma „verhandlungsmüde“. Daher der Wunsch nach einem schnellen Abschluss. Die Genossen wollen sich nicht unter Druck setzen lassen.

„Wir können ja nicht verkleidet herumhüpfen, ohne fertig zu sein“

Einig ist man sich, dass Verhandlungen über Karneval unschöne Bilder liefern würden. „Wir können ja nicht verkleidet herumhüpfen, ohne fertig zu sein“, sagt ein SPD-Stratege. Bei der Union wiederum bemerken sie, dass den Genossen der Schreck vom 56-Prozent-Parteitag in den Knochen steckt. Auf die Stimmung drücken außerdem die Umfragen.

Im neuen ARD-Deutschlandtrend rutscht die SPD um zwei Punkte auf 19 Prozent ab. Das könnte sich für Schulz & Co. noch als Vorteil herausstellen. Wenn Mitte Februar der zwei Millionen Euro teure Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag beginnt, könnten einige der 440.000 SPD-Parteigänger doch eher ein Ja ankreuzen – die Aussicht, die eigene Partei bei Umfragewerte von unter 20 Prozent in eine Neuwahl zu schicken und womöglich hinter der AfD zu landen, dürfte abschreckend wirken.

Tausende Bürger treten in die Partei ein

Am Montag übrigens will die SPD-Spitze einen Stichtag festlegen, ab wann die „Gästeliste“ geschlossen wird – damit von den No-GroKo-Jusos angelockte Neumitglieder die Basisabstimmung über den Koalitionsvertrag nicht unbegrenzt entern können.

Jusos wollen GroKo noch verhindern

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    Momentan treten Tausende Bürger neu in die SPD ein – nicht alle dürften der Partei wohlgesonnen sein. Den Jusos ist nicht mehr geheuer, welche Geister sie da womöglich gerufen haben. Man wolle keine „Stimmtouristen“. „Das ist ja kein Spaß. Keine Fitnessstudio-Mitgliedschaft, die man mal eben schnell abschließt und dann bald wieder kündigt“, sagt Schulz’ härtester Gegner, Juso-Chef Kevin Kühnert.

    Merkel will Kanzlereid ablegen – zum vierten Mal

    Er hält den Druck auf Schulz aufrecht. Ein Scheitern der Verhandlungen müsse für die SPD eine Option bleiben. Das hört die Kanzlerin sicher nicht gern. Merkel möchte vor Ostern zum vierten Mal den Kanzlereid ablegen. Sie ist aber bis auf Weiteres eine Gefangene der widrigen Umstände. Mit Seehofer und Schulz kommt Merkel am Freitag gut voran.

    Kurze Verwirrung gibt es am Nachmittag. Erst heißt es, die Chefs würden die Arbeitsgruppe Europa aus Zeitgründen nicht leiten. Dann die Kehrtwende. Schon im Internet veröffentlichte Listen mit den Arbeitsgruppen-Leitern müssen korrigiert werden. Am Morgen verkündet Schulz, Deutschland müsse mehr für Europa tun: „Das wird es nur geben mit einer sozialdemokratischen Beteiligung in der Bundesregierung.“ Spricht da schon der kommende Außenminister?

    Was wird aus Sigmar Gabriel?

    Gezielt wird von seinen Gegnern gestreut, er solle – wie nach der Wahl versprochen – auf einen Ministerposten verzichten, um nicht mit der nächsten 180-Grad-Wende seine Glaubwürdigkeit ganz zu verspielen. Nun gehen Schulz-Unterstützer in die Offensive. Über den „Spiegel“ heißt es, Schulz habe vor dem Parteitag signalisiert, dass er nicht verzichtet. Alles andere wäre machtpolitisch ein Eigentor. Ein SPD-Vorsitzender, der von der Seitenlinie dem GroKo-Spiel zuschaut, würde bald ausgewechselt.

    Aber was wird aus Sigmar Gabriel? Der Ex-Parteichef will im Kabinett bleiben. Gabriel traut sich auch das Finanzministerium zu. Der ideale Kandidat für das Schatzamt wäre aber Hamburgs Regierungschef Olaf Scholz.

    Kampf ums Finanzministerium

    Seit die SPD Nachforderungen bei Flüchtlingen, Gesundheit und Arbeitsmarkt erhoben hat, pokert die Union wieder um das Finanzministerium. Peter Altmaier oder Seehofer werden ins Spiel gebracht. Der CSU-Chef, der in München seinen Ministerpräsidentenjob demnächst an Markus Söder abgeben muss, will in Berlin den Herbst seiner Karriere auf jeden Fall in einem „Superressort“ verbringen.