Berlin. Die Sondierungen gehen weiter: In Sachen Sozialpolitik könnten die möglichen Koalitionspartner ihre Differenzen mit Geld beseitigen.

Mindestens einen großen Brocken packen die Jamaika-Verhandler auch an diesem Montag an, wenn sie das erste Mal über Sozialpolitik sprechen: Sieben Milliarden Euro pro Jahr würde die „Mütterrente“ kosten, die die CSU ihren Wählern zum wiederholten Mal versprochen hat. Gemeint ist damit, dass sich die Erziehungszeiten für Eltern bei der Rente stärker bezahlt machen, wenn sie vor dem Jahr 1992 Kinder bekommen haben. Pro Kind würden die Altersbezüge um rund 30 Euro pro Monat steigen.

Großkonflikte, wie es sie bei den Verhandlungen zu den Themen Einwanderung oder Klima gab, sind in der Sozialpolitik unwahrscheinlich. Dafür geht es um viel Geld, um teure Wahlgeschenke – und um die ganz konkreten Lebensumstände der Wähler. Auf der Tagesordnung beim Treffen von Union, FDP und Grünen stehen die gegenseitigen Positionen zu Arbeitsmarkt, Rente, Gesundheit und Pflege.

Göring-Eckardt: Viele haben Angst vor Altersarmut

„Beim Thema Rente geht es darum, die Gesellschaft zusammenzuhalten und Ängste abzubauen“, sagte die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt am Wochenende unserer Redaktion. „Hier wartet großer Reformbedarf auf die nächste Regierung, und da werden sich Union und FDP bewegen müssen.“ Viele Menschen hätten Angst vor Altersarmut und vor dem Gefühl, die eigenen Rentenbeiträge würden nur für kleine Altersbezüge reichen. „Diese Unsicherheit müssen wir den Menschen nehmen“, sagt Göring-Eckardt.

Die Grünen wollen gezielte Maßnahmen für alleinstehende Frauen, für Selbstständige und für Menschen vorschlagen, die nicht mehr voll arbeiten können. Diesen „Erwerbsgeminderten“ müsse man als erstes helfen. „Darüber hinaus muss das Vertrauen in die gesetzliche Rente durch ein stabiles Rentenniveau und einen stabilen Beitragssatz, eine Garantierente sowie eine bessere Absicherung von Selbstständigen gestärkt werden“, forderte Göring-Eckardt, die selbst über diese Themen verhandeln wird.

Grüne plädieren für zwei Vize-Kanzler in Jamaika-Koalition

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    DGB: „Jetzt den Sinkflug des Rentenniveaus stoppen“

    Die Gewerkschaften in Gestalt von DGB-Chef Reiner Hoffmann dringen darauf, dass sich eine Jamaika-Koalition besonders schnell um dieses Thema kümmert. „Bei der Rente gibt es kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit“, sagte Hoffmann. „Die gesetzliche Rente muss wieder gestärkt werden.“ Mit einer von der Union geplanten Rentenkommission würde das Thema auf die lange Bank geschoben. Man müsse aber jetzt „den Sinkflug des Rentenniveaus stoppen“, so Hoffmann.

    Einer der Hauptstreitpunkte bei der Rente könnte das Rentenalter sein. CDU-Chefin Angela Merkel hatte im Wahlkampf versichert, daran nichts zu ändern. Die FDP will erreichen, dass Beschäftigte ab 60 Jahren selbst entscheiden, wie lange sie arbeiten. Die entscheidende Frage dürfte auch sein, wie teuer eine Rentenreform werden darf. Geht es nach den Arbeitgebern, dann dürfen die Sozialabgaben zusammen allenfalls 40 Prozent des Bruttolohns betragen. Dies müsse im Koalitionsvertrag stehen, forderte Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer am Sonntag: „Soziale Sicherung muss auch in Zukunft stabil und bezahlbar sein.“ Er warnte davor, die Sozialversicherung durch Leistungsausweitungen „zukunftsunfähig“ zu machen. Gemeint war die „Mütterrente“.

    Streitpotenzial in den Details der Arbeitsmarktpolitik

    Streitpotenzial lauert auch in Details der Arbeitsmarktpolitik. DGB-Chef Reiner Hoffmann forderte Union, FDP und Grüne auf, das Arbeitsleben fair und gerecht zu gestalten und so das Leben der Bürger zu verbessern. „Also: Hände weg vom Arbeitszeitgesetz!“, verlangte er. „Stattdessen brauchen wir mehr Zeitsouveränität für die Beschäftigten, damit die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben auch gelingt.“

    Darüber hinaus werden die Jamaika-Verhandler über diese sozialpolitischen Themen sprechen:

    Minijobs: Union und FDP wollen die Verdienstgrenze für 450-Euro-Jobs erhöhen. Sie war zuletzt am 1. Januar 2013 um 50 Euro gestiegen. Für die etwa 7,5 Millionen Minijobber bedeutet das, dass sie mehr Geld verdienen können, von dem sie weder Sozialabgaben noch Steuern abführen müssen. Die Union will die Grenze gemäß der jährlichen Lohnsteigerung anheben. Die FDP will sie auf das 60-Fache des gesetzlichen Mindestlohns festlegen – derzeit wären das rund 530 Euro. Die Grünen wollen so viele Minijobs wie möglich in sozialabgabenpflichtige Beschäftigung umwandeln.

    Mindestlohn: Am 2015 eingeführten gesetzlichen Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro pro Stunde will im Grundsatz keine der Parteien rütteln. Aber die Fußangeln liegen im Detail: Union und FDP wollen „unnötige Bürokratie“ abbauen, so steht es im Unions-Wahlprogramm. Das zielt auf die Dokumentationspflichten für Arbeitgeber. In einigen Branchen müssen bis zu 2958 Euro Monatseinkommen Beginn, Ende und Dauer der Arbeitszeit aufgezeichnet werden. Würde die Gehaltsschwelle abgesenkt, wären weniger Beschäftigte betroffen. Die schleswig-holsteinische Jamaika-Koalition hat vorgeschlagen, für Teilzeitkräfte die Dokumentationspflicht zu reduzieren. Gewerkschaften sehen damit eine Aufweichung des Mindestlohns.

    Rückkehr von Teil- in Vollzeit : In ihren Wahlprogrammen haben Union und Grüne ein gesetzlich verbrieftes Rückkehrrecht von Teil- auf Vollzeitjobs in Aussicht gestellt. Die Grünen wollen dazu den bestehenden Rechtsanspruch auf Teilzeit um ein Rückkehrrecht auf den früheren Stundenumfang ergänzen. Darüber hatte sich die Union schon mit der SPD zerstritten: Aus Sicht der Union sollte die befristete Teilzeit für Betriebe ab 200 Mitarbeitern gelten, die SPD wollte die im Teilzeitgesetz verankerte Schwelle von 15 Mitarbeitern gelten lassen. Die FDP steht dem Vorhaben reserviert gegenüber und sieht sich damit auf Seiten der Wirtschaft, die eine Gesetzesregelung ablehnt.

    Arbeitsverträge auf Zeit: Bei den rund 3,65 Millionen Neueinstellungen im Jahr 2015 (ohne Lehrlinge und Minijobs) war fast jeder zweite Arbeitsvertrag (45 Prozent) nach Berechnungen von Experten befristet. Oft geschieht dies, weil eine Vertretung in der Elternzeit gesucht wird oder ein anderer sachlicher Grund vorliegt. Aber auch ohne sachlichen Grund können Verträge bis zu zwei Jahre befristet werden. Nach Experten-Berechnungen machen diese Befristungen etwa die Hälfte aller Jobs auf Zeit aus. Grüne würden diese Möglichkeit gerne einschränken. Die Chancen dafür scheinen gering, da große Teile der Union und die FDP dies ablehnen. Etwa 40 Prozent der Jobs auf Zeit führen zu unbefristeter Arbeit. Gemessen an allen Jobs sind etwa neun Prozent der Arbeitsverträge befristet.

    Langzeitarbeitslose: Die Union hat das – von niemandem infrage gestellte – Ziel der Vollbeschäftigung mit der Jahreszahl 2025 versehen. Als Messlatte dafür gilt eine Arbeitslosenquote von weniger als drei Prozent. Bei 5,5 Prozent im September müsste sie also halbiert werden. Experten halten mehr Engagement und auch Geld für erforderlich, um vor allem Langzeitarbeitslose in den Arbeitsmarkt zu bringen. Dazu will die Union Langzeitarbeitslosen „verstärkt die Möglichkeit geben, sinnvolle und gesellschaftlich wertige Tätigkeiten auszuüben“. Die Grünen fordern einen „verlässlichen sozialen Arbeitsmarkt“, auf dem für Langzeitarbeitslose ein regulärer Job finanziert würde. Die FDP will „statt Arbeitslosigkeit sozialversicherungspflichtige Arbeit für die Betroffenen“ unterstützen.

    Sozialabgaben: In der Arbeitslosen- und Rentenversicherung können die möglichen Koalitionäre den Beitrag senken, wenn sie keine großen Mehrausgaben beschließen oder diese aus Steuern finanzieren. Für 2018 ist eine Absenkung des Rentenbeitrags um 0,1 Prozentpunkte in Sicht, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer um 1,3 Milliarden Euro entlasten würde. Eine noch stärkere Senkung um bis zu 0,3 Punkte könnte in der Arbeitslosenversicherung anstehen: Nach derzeitigen Berechnungen ist die Bundesagentur für Arbeit bis zum Jahr 2019 finanziell ausreichend für Krisenfälle gewappnet. (mit rtr)