Hannover. In Niedersachsen könnte die SPD endlich mal wieder eine Wahl gewinnen. Damit könnte auch ein Prozess der Selbstbehauptung beginnen.

Politische Urteile sind wie Windvorhersagen. Sie wechseln schnell. Als der rot-grünen Regierung in Niedersachsen im August eine Abgeordnete von der Fahne lief, sprach man von einem Desaster für die SPD. Das war es auch. Heute wird im Land gewählt und viele betrachten es als Chance für die SPD und ihren Chef Martin Schulz.

Das ist es auch. Es ist dieselbe Wahl, dasselbe Land, aber der Blick darauf hat sich geändert. Hinzu kommt, dass die Deutschen ein Händchen für das Gleichgewicht und in den Ländern oft andere Kräfte als im Bund unterstützt haben.

Wird die SPD stärkste Kraft in Niedersachsen?

Es ist eine Landtagswahl, nicht mehr. Wie im März im Saarland, im Mai in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Im Saarland war die CDU-Spitzenkandidatin überzeugend, im Norden redete sich der Ministerpräsident der SPD um Kopf und Kragen, tief im Westen gab es eine Wechselstimmung – in Niedersachsen nicht. Deswegen ist die Chance reell, dass die SPD sich behauptet, den Regierungschef stellt, gar stärkste Partei wird.

Wenn sich der Wind dreht, hätte das weniger mit Schulz (oder doch, Mitleid vielleicht?) zu tun. Aber nach einem schrecklichen Jahr würde man ihm das Erfolgserlebnis gönnen. Ein Sieg, gefühlt oder echt, wäre für die Seele der Partei gut, nüchtern betrachtet aber nur der Beginn eines langen Prozesses der Selbstbehauptung.

Niedersachsen-Wahl ist eine Chance

Zuletzt hat man nicht mehr gewusst, wie man sie aufmuntern sollte, am ehesten mit einer Büroweisheit, „lächle und sei froh, es könnte schlimmer kommen, und ich lächelte und war froh, und es kam schlimmer …“ Gelächelt hat Schulz nicht, weinerlich war er. Das sollte es sich abgewöhnen.

Die Bundes-SPD ist mitten in der Trauerarbeit, vielleicht zu trostlos, um für Ratschläge empfänglich zu sein. Sei es drum. Die Wahl in Niedersachsen und die nächsten vier Jahre in Berlin sind eine Chance: Angela Merkel war bei der Bundestagswahl schlagbar und wird es bleiben, denn die Fliehkräfte in der Union selbst, aber auch in einem Jamaika-Bündnis mit Grünen und FDP sind groß. Opposition ist nicht Mist, aber ein Muss und vielleicht ein Mehr, wenn die SPD sich klar wird, wer sie ist.

Schulz muss Annäherung an Linke zu Ende bringen

Der Niedergang begann 2002, also mit der Agenda 2010. Für Deutschland mag sie gut gewesen sein, die SPD aber erkennt sich im Spiegel nicht wieder. Hier, bei der Kombination von Wirtschaftskompetenz und sozialem Gewissen, muss sie ihre Erneuerung ansetzen. Sie muss sich sortieren, organisatorisch und finanziell, mit weniger Geld auskommen und das, obwohl der beste Ersatz – in einer älter werdenden Gesellschaft – auch eine knappe Ressource ist: neue Ideen und Talente.

Der Umgang mit der Linken ist verkrampft. Schulz sollte den Prozess der Annäherung zu Ende bringen, den sein Vorgänger abbrach. Die SPD ist eine linke Partei der Mitte, Linke und Grüne folgerichtig natürliche Verbündete. Vor allem sollte die SPD nie mehr einem Kanzlerkandidaten einen solchen Höllenritt zumuten wie Schulz. Späte Nominierungen, damit der Kandidat nicht verschlissen wird, sind ein Trugschluss. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wer vier Jahre lang die Spannung ausgehalten und den Expander nicht losgelassen hat, zu dem fassen die Wähler am ehesten Vertrauen.

Schulz sollte sich selbst infrage stellen

Wie auch immer Niedersachsen ausgeht, die SPD hat keinen Grund, Schulz in die Wüste zu schicken. Schulz sollte sich selbst infrage stellen. Die SPD braucht jemanden mit der Prinzipientreue des Briten Jeremy Corbyn, den Idealen des Amerikaners Bernie Sanders, dem Charisma des Kanadiers Justin Trudeau. Alle drei haben Menschen, jüngere zumal, begeistert. Ralf Stegner, der SPD-Vizechef, hat das erkannt. Ob er dabei wirklich an Martin Schulz gedacht hat?