Berlin. Erstmals könnte Deutschland von einem Bündnis aus Union, Grünen und FDP regiert werden. Doch auf vielen Feldern gibt es Streitpunkte.
Die Frage klingt wie eine Falle. Ob es Gemeinsamkeiten zwischen Grünen und Liberalen gibt, die bislang noch keiner auf dem Schirm hatte, wird FDP-Parteivize Wolfgang Kubicki am Morgen nach der Wahl gefragt. Es geht um realistische Chancen für ein Dreierbündnis mit der Union, um Schnittmengen und Sollbruchstellen. Kubicki denkt keine Sekunde nach. „Ja, die essen auch Fleisch.“
Gelächter im Saal der Bundespressekonferenz. Doch in diesem Satz steckt mehr als ein billiger Gag. Drei Dinge platziert Kubicki damit. Erstens: Sie gehen manchmal zusammen essen, sie reden also miteinander. Zweitens: Die Gräben zwischen Grünen und FDP sind flacher, als auch die Scharfmacher in beiden Parteien glauben machen. Und: Mit Humor wird es leichter.
Seit zwei Jahrzehnten probieren CDU, FDP und Grüne bereits Dreierbündnisse aus – erst in Städten und Gemeinden, dann auch auf Landesebene. Im Saarland scheiterte die Jamaika-Koalition nach gut zwei Jahren, in Schleswig-Holstein regieren die drei Parteien seit Monaten relativ geräuschlos miteinander. Auf Bundesebene ist Jamaika dagegen Neuland. Mehr noch: Hier würde das Koalitionsmodell sogar ein Viererbündnis sein – wenn auch die CSU dabei wäre. Kann das überhaupt funktionieren?
Lindner einstimmig zum FDP-Fraktionsvorsitzenden gewählt
Am Tag nach der Bundestagswahl werden die vier Parteien mit Argusaugen beobachtet – und sie beobachten sich gegenseitig: Wer sendet Koalitionssignale, wer betoniert rote Linien? Gleichzeitig müssen sich die neuen Fraktionen aufstellen – die 80-köpfige FDP-Fraktion wählte bereits am Montag Christian Lindner einstimmig zum Vorsitzenden. Er bekräftigte noch einmal: „Wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen – das waren wir in unserer Geschichte immer.“
Die Union war nicht so schnell, sie war am Montag vor allem mit der Analyse beschäftigt. Die Pragmatikerin und Realpolitikerin Angela Merkel mit ihrer CDU wird sich mit den Grünen und auch mit der FDP arrangieren können. Am nervösesten ist die CSU – immer die Landtagswahl im Herbst 2018 vor Augen, bei der ein Verlust der absoluten Mehrheit ein Debakel wäre, das man in München unter allen Umständen verhindern möchte.
CSU-Chef Horst Seehofer ist finster entschlossen, seine Positionen, etwa bei der Zuwanderung, durchzusetzen. „Wir wollen, dass die bayerischen Interessen in Berlin berücksichtigt werden.“ Dafür will er vor Sondierungen mit anderen Parteien zunächst einen gemeinsamen Kurs mit der Schwesterpartei CDU abstimmen. Und dann? CSU-Spitzenkandidat Joachim Herrmann hat Bedenken. Er könne sich im Moment „noch nicht so recht die gemeinsame Basis mit den Grünen in diesen Dingen vorstellen“.
Ähnlich geht es den Spitzenkandidaten der Öko-Partei. Katrin Göring-Eckardt sprach am Montag wieder von der Verantwortung der Grünen: „Das Land braucht eine stabile Regierung.“ Allerdings erwartet sie „sehr komplizierte, sehr schwierige“ Sondierungsgespräche. Man werde nicht um jeden Preis in eine Regierung eintreten. „Wir wollen da was reißen“, sagte auch Cem Özdemir. Wenn das nicht klappe, „dann müssen wir bedauerlicherweise in die Opposition“. Das sind die zentralen Streitpunkte auf dem Weg zu einer Jamaika-Koalition:
Streitpunkt innere Sicherheit
Hier ist Horst Seehofer unerbittlich. Er beharrt auf einem klaren Mitte-rechts-Kurs der Union. Die Union will im öffentlichen Raum deutlich mehr Videokameras installieren, auch mehr Polizei, und den Sicherheitsbehörden mehr Zugriff auf vorhandene Datenbanken geben – zur Verhinderung und Aufklärung schwerer Straftaten. Grüne und Liberale lehnen das ab.
FDP-Chef Lindner erklärte am Montag, dass der Einsatz für „bürgerliche Freiheitsrechte“ neben mehr Anstrengungen für Bildung und Digitalisierung zu den wichtigsten Übereinstimmungen mit den Grünen gehören. Eine Blaupause für einen Kompromiss ließe sich bei der schwarz-gelben Koalition in NRW finden.
Streitpunkt Umwelt und Klima
Die Grünen haben sich im Wahlkampf voll auf ihr Kernthema Umwelt konzentriert. In einer Jamaika-Koalition wollen sie das ökologische Gewissen verkörpern. Intern gilt die Abschaltung der 20 schmutzigsten Kohlekraftwerke als erstes Ziel. Das sei der „wichtigste Punkt“, sagt ein Parteistratege. Nur so könne Deutschland seine Klimaziele einhalten. Fast ebenso zentral ist für die Grünen das Ende des Verbrennungsmotors. Die Grünen wollen – am liebsten ab 2030 – nur noch Elektroautos neu zulassen. Das ist mit FDP und Union kaum machbar. Die Liberalen haben generell nichts gegen Elektromobilität, wollen aber warten, bis der Markt so weit ist.
Auch Landwirtschaft hat mit Umwelt zu tun: Die Grünen fordern eine nachhaltige Landwirtschaft. Das heißt als Maximalforderung: die Abschaffung der „industriellen Massentierhaltung“. Auch das wird schwierig mit der Union. Vielleicht kann die Öko-Partei sich mit dem Plan durchsetzen, dass künftig auf der Fleischverpackung steht, woher das Fleisch kommt – wie bei Eiern.
Die Grünen schauen bereits auf Ministerien, mit denen sich diese Ziele umsetzen lassen. Ein Beispiel: Klappt Jamaika, wird es wahrscheinlich einen grünen Umweltminister geben. Die Grünen brauchen Erfolge in der Klimapolitik, um Jamaika dem linken Flügel zu verkaufen. Fraktionschef Anton Hofreiter, der als Minister in einer Jamaika-Regierung als gesetzt gilt, muss Rebellen in den eigenen Reihen beruhigen.
Streitpunkt Einwanderung
Bei der Einwanderungspolitik ist massiver Streit programmiert: Für die CSU ist die künftige Flüchtlingspolitik der Dreh- und Angelpunkt. Eine Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr, wie es die Bayern fordern, wird es aber aller Voraussicht nach weder mit der FDP noch mit den Grünen geben. „Das ist eine Chimäre“, sagt FDP-Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff, das Verfassungsgericht würde eine solche Festlegung sofort wieder kassieren. „Sie können das Asylrecht nicht zahlenmäßig begrenzen.“
Eine neue Einwanderungspolitik aber ist auch für die FDP eines der zentralen Anliegen: Sie wollen das deutsche Asylrecht für individuell politisch Verfolgte nicht antasten. Auch Kriegsflüchtlinge sollen weiter zeitweiligen Schutz bekommen. Neu einführen wollen die Liberalen ein Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild. Deutschland soll sich Zuwanderer nach Qualifikation, Bedarf und Grad der Integration aussuchen können. Da liegen Liberale und Grünen beieinander.
Probleme aber dürfte es geben bei der Frage, wer in Zukunft in seine Heimat zurückkehren muss – das gilt etwa bei Abschiebungen nach Afghanistan oder Nordafrika. Die Union will nach sechs Balkanstaaten auch die nordafrikanischen Länder Algerien, Marokko und Tunesien zu sicheren Herkunftsstaaten erklären, um Asylbewerber von dort leichter abschieben zu können. Die Grünen lehnen das ab und wollen verhindern, dass weitere Länder als sicher eingestuft werden. Erfahrene Bündnisarchitekten wie Parteivize Kubicki raten bereits: „Man muss verstehen, wo die Schmerzgrenze des anderen liegt.“ Vollkommen unklar ist aber, wie gerade Grüne und CSU in diesem Punkt zusammenfinden sollen.
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