Hannover/Göttingen. Die SPD und ihr Vorsitzender Schulz kämpfen nach der Bundestagswahl ums Überleben. Eine Nahaufnahme des Niedersachsen-Wahlkampfes.

Sie stehen auf, als Martin Schulz die Kongresshalle betritt. Noch bevor er ein Wort gesagt hat, bekommt der SPD-Vorsitzende Ovationen. Freundlicher ist ein Wahlverlierer wohl selten empfangen worden. Aber beim Kongress der Gewerkschaft IG Bergbau Chemie Energie in Hannover ist Schulz unter Freunden. Er selbst ist Mitglied, die allermeisten Gewerkschafter sind Parteifreunde. „Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften sind die beiden Flügel der Arbeiterbewegung“, ruft er.

Es ist Freitagmorgen, die

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ist 19 Tage her. Der Parteichef hat sie genau gezählt. „Vor 19 Tagen“, das sagt er gleich am Anfang, „da haben wir richtig eins auf die Nuss gekriegt.“ Das Ergebnis sei niederschmetternd gewesen. Wie sehr es auch ihn, den Spitzenkandidaten, belastet, merkt man Schulz an. Er springt zwischen den Themen, verhaspelt sich, er findet keinen roten Faden. Seine Rede ist eine Mischung aus verspäteter Wahlkampfattacke, Vergangenheitsbewältigung und dem Versuch, die SPD wieder aufzurichten.

Schwierige Zeit für die „alte Tante SPD“

Man könne jetzt nicht zur Tagesordnung übergehen, sagt Schulz. Es sei auch „nicht die Zeit für vorschnelle Antworten“. Die

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Man müsse „mit modernen Werkzeugen operieren“. Mehr Dialog mit Bürgern, mehr Konfrontation mit politischen Gegnern, was man halt so sagt, wenn man noch keine echte Antwort hat.

Demoskopen erwarten Kopf-an-Kopf-Rennen in Niedersachsen

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    Die SPD solle wieder Arbeitnehmerpartei werden, verspricht Schulz. Wie das gehen soll, lässt er offen. Die Erfolge der großen Koalition, die vor allem Arbeitnehmern zugute kamen, erwähnt er nicht. Lieber arbeitet er sich an Merkel, Schäuble und der AfD ab. Der Applaus zum Schluss fällt kühler aus als zu Beginn.

    In solchen Momenten ist die Krise der SPD fast mit Händen zu greifen. Es sei gerade „keine einfache Zeit für die alte Tante SPD“, hatte Gewerkschaftschef Michael Vassiliadis vor Schulz’ Rede gesagt. In der Tat: Die Partei hat bei der Bundestagswahl das schlechteste Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik kassiert. Zuvor hatte sie drei Landtagswahlen verloren. Und sie hat einen Chef, der nicht verbirgt, wie ratlos er ist.

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    er wird es wohl zunächst auch können. Die SPD hat gerade niemand anderen. Sie will auch erst einmal keinen anderen. „Der Mann ist mit 100 Prozent gewählt“, sagt jemand in der Bundestagsfraktion und behauptet: „Der sitzt fest im Sattel.“ Allerdings: Ein paar Vorschläge, wohin die SPD steuern soll, müsse es jetzt bald geben.

    In den nächste Wochen muss Schulz sich auch noch

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    Das Bewerberfeld ist bislang überschaubar. Bereits am Montag trifft sich der Parteivorstand, da werden der Vorsitzende und die Spitzengenossen das erste Mal ausführlich über die Zukunft reden.

    Sieg von Stephan Weil würde Martin Schulz stützen

    Die Stimmung dürfte dann nicht so schlecht sein, denn bei der Landtagswahl am Sonntag in Niedersachsen

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    In den Umfragen ist sie auf den letzten Metern an der CDU vorbeigezogen. Ministerpräsident Stephan Weil kann sein Amt offenbar verteidigen.

    Er wäre damit automatisch ein Kandidat für einen Posten als stellvertretender Parteivorsitzender. Weil hat Schulz nach der Bundestagswahl gestützt. Fällt der Sieg wie erwartet aus, dürfte das nun Martin Schulz stützen. Es wäre eine Verschnaufpause. Zwei Tage lang hat er für Weil Wahlkampf gemacht.

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      Wird die SPD stärkste Kraft in Niedersachsen nach 19 Jahren?

      Wie Weil die SPD zum Erfolg geführt hat, lässt sich am Donnerstagabend in Göttingen besichtigen, im Bürgerhaus im Ortsteil Grone. „Auf ein Wort mit Stephan Weil“ heißt die Veranstaltung. Das Publikum kann Fragen auf Bierdeckel schreiben. Die Themen sind zufällig, aber nicht überraschend: Es geht um

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      Landärzte, Pflegekräfte und den Wolf, um zu wenige Polizisten und Lehrer und zu viele Straßenbaustellen.

      Der Raum ist rappelvoll, etwa die Hälfte der Zuhörer muss stehen. Weil läuft in der Mitte auf und ab. Es gebe „eine wachsende Distanz zwischen den Regierenden und den Regierten“, findet er, „zu wenige Gespräche miteinander“. Seit 19 Jahren habe die SPD erstmals die realistische Chance, stärkste Kraft in Niedersachsen zu werden, ruft er euphorisch. Zur Bundestagswahl sagt er kein Wort.

      Ministerpräsidentin Schwesig versucht zu motivieren

      Das übernimmt Manuela Schwesig, der Stargast des Abends. Die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern wurde bereits als mögliche Schulz-Nachfolgerin gehandelt, hat aber abgewinkt – vorerst zumindest. Ihr reicht das Amt der Parteivize. In der Bundespolitik habe man vier gute Jahre lang regiert, sagt sie, „auch wenn es das Ergebnis nicht gezeigt hat“. Die Niederlage sei bitter gewesen, eine Fortsetzung der großen Koalition deshalb nicht mehr möglich.

      Die Vorsitzenden der SPD seit 1946

      Nach dem Zweiten Weltkrieg musste sich die SPD neu organisieren. Der 1895 in Westpreußen geborene Kurt Ernst Carl Schumacher führte die Partei von 1946 bis 1952.
      Nach dem Zweiten Weltkrieg musste sich die SPD neu organisieren. Der 1895 in Westpreußen geborene Kurt Ernst Carl Schumacher führte die Partei von 1946 bis 1952. © imago/ZUMA/Keystone | imago stock&people
      Nach dem Tod Kurt Schumachers 1952 übernahm der gebürtige Magdeburger Erich Ollenhauer das Amt des SPD-Vorsitzenden. Er war zugleich SPD-Fraktionschef im Bundestag. Beide Ämter hielt er bis zu seinem Tod 1963.
      Nach dem Tod Kurt Schumachers 1952 übernahm der gebürtige Magdeburger Erich Ollenhauer das Amt des SPD-Vorsitzenden. Er war zugleich SPD-Fraktionschef im Bundestag. Beide Ämter hielt er bis zu seinem Tod 1963. © imago/ZUMA/Keystone | imago stock&people
      Der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, übernahm den Parteivorsitz 1964 und hielt das Amt bis 1987.
      Der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, übernahm den Parteivorsitz 1964 und hielt das Amt bis 1987. © BM | imago/ Sven Simon
      Der gebürtige Göttinger Hans-Jochen Vogel war SPD-Vorsitzender von 1987 bis 1991. Zuvor war er unter anderen Bürgermeister von München und Regierender Bürgermeister von Berlin gewesen und hatte zwei Bundesministerien geführt.
      Der gebürtige Göttinger Hans-Jochen Vogel war SPD-Vorsitzender von 1987 bis 1991. Zuvor war er unter anderen Bürgermeister von München und Regierender Bürgermeister von Berlin gewesen und hatte zwei Bundesministerien geführt. © imago stock&people | imago stock&people
      Björn Engholm führte die Sozialdemokraten von 1991 bis 1993. Er war der designierte Kanzlerkandidat seiner Partei, trat im Zuge der Barschel-Affäre aber von allen politischen Ämtern zurück.
      Björn Engholm führte die Sozialdemokraten von 1991 bis 1993. Er war der designierte Kanzlerkandidat seiner Partei, trat im Zuge der Barschel-Affäre aber von allen politischen Ämtern zurück. © imago/Rainer Unkel | imago stock&people
      Nach dem Rücktritt von Björn Engholm führte der spätere Bundespräsident Johannes Rau die SPD kommissarisch.
      Nach dem Rücktritt von Björn Engholm führte der spätere Bundespräsident Johannes Rau die SPD kommissarisch. © imago/photothek | Thomas Imo
      Bei einer Ur-Wahl 1993 sprach sich eine Mehrheit der SPD-Mitglieder für den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Rudolf Scharping aus. Er führte die Partei bis 1995.
      Bei einer Ur-Wahl 1993 sprach sich eine Mehrheit der SPD-Mitglieder für den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Rudolf Scharping aus. Er führte die Partei bis 1995. © imago stock&people | imago stock&people
      Oskar Lafontaine war von 1995 bis 1999 SPD-Vorsitzender. 2005 verließ er die Partei und wechselte zur neu gegründeten Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG), die später in der Partei Die Linke aufging.
      Oskar Lafontaine war von 1995 bis 1999 SPD-Vorsitzender. 2005 verließ er die Partei und wechselte zur neu gegründeten Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG), die später in der Partei Die Linke aufging. © BM | imago/ Jürgen Eis
      Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder übernahm den SPD-Vorsitz 1999 und hielt das Amt bis 2004.
      Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder übernahm den SPD-Vorsitz 1999 und hielt das Amt bis 2004. © imago stock&people | imago stock&people
      Franz Müntefering führte die SPD von 2004 bis 2005. Er verzichtete 2005 auf eine erneute Kandidatur.
      Franz Müntefering führte die SPD von 2004 bis 2005. Er verzichtete 2005 auf eine erneute Kandidatur. © BM | imago/ Rainer Unkel
      Nach Münteferings Rückzug wurde Matthias Platzeck im November 2005 zum Vorsitzenden gewählt. Nach zwei Hörstürzen in den Wochen darauf trat er im April 2006 aus gesundheitlichen Gründen zurück.
      Nach Münteferings Rückzug wurde Matthias Platzeck im November 2005 zum Vorsitzenden gewählt. Nach zwei Hörstürzen in den Wochen darauf trat er im April 2006 aus gesundheitlichen Gründen zurück. © BM | imago/ Michael Schöne
      Kurt Beck übernahm zunächst kommissarisch und wurde dann auf einem Sonderparteitag bestätigt. 2008 erklärte er seinen Rücktritt, nachdem durch Indiskretionen bekannt geworden war, dass Frank-Walter Steinmeier die SPD als Spitzenkandidat in die Bundestagswahl 2009 führen sollte.
      Kurt Beck übernahm zunächst kommissarisch und wurde dann auf einem Sonderparteitag bestätigt. 2008 erklärte er seinen Rücktritt, nachdem durch Indiskretionen bekannt geworden war, dass Frank-Walter Steinmeier die SPD als Spitzenkandidat in die Bundestagswahl 2009 führen sollte. © imago stock&people | imago stock&people
      Franz Müntefering stand von Becks Rücktritt 2008 bis zum schlechten Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl 2009 zum zweiten Mal an der Parteispitze.
      Franz Müntefering stand von Becks Rücktritt 2008 bis zum schlechten Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl 2009 zum zweiten Mal an der Parteispitze. © BM | imago/ Rainer Unkel
      Sigmar Gabriel wurde einer der langjährigsten Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei. Er führte die Partei von 2009 bis 2017 an.
      Sigmar Gabriel wurde einer der langjährigsten Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei. Er führte die Partei von 2009 bis 2017 an. © imago stock&people | imago stock&people
      Martin Schulz wurde am 19. März 2017 zum Vorsitzenden gewählt. Auf innerparteilichen Druck hin erklärte er nach seiner erfolglosen Kanzlerkandidatur am 9. Februar 2018 schriftlich seinen „Verzicht auf den Eintritt in die Bundesregierung“. Am 13. Februar 2018 gab er seinen Rücktritt bekannt.
      Martin Schulz wurde am 19. März 2017 zum Vorsitzenden gewählt. Auf innerparteilichen Druck hin erklärte er nach seiner erfolglosen Kanzlerkandidatur am 9. Februar 2018 schriftlich seinen „Verzicht auf den Eintritt in die Bundesregierung“. Am 13. Februar 2018 gab er seinen Rücktritt bekannt. © imago/ZUMA Press | Emmanuele Contini
      Andrea Nahles, die erste Frau an der Parteispitze, führte die SPD von April 2018 bis Juni 2019. Am 2. Juni 2019 kündigte Nahles ihren Rücktritt als SPD-Vorsitzende und Chefin der Bundestagsfraktion an. Die 48-Jährige legte auch ihr Bundestagsmandat nieder und kündigte an, sich komplett aus der Politik zurückzuziehen.
      Andrea Nahles, die erste Frau an der Parteispitze, führte die SPD von April 2018 bis Juni 2019. Am 2. Juni 2019 kündigte Nahles ihren Rücktritt als SPD-Vorsitzende und Chefin der Bundestagsfraktion an. Die 48-Jährige legte auch ihr Bundestagsmandat nieder und kündigte an, sich komplett aus der Politik zurückzuziehen. © dpa | Bernd von Jutrczenka
      Thorsten Schäfer-Gümbel, SPD-Vorsitzender in Hessen, Manuela Schwesig (Mitte), Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern und Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, übernahmen den Parteivorsitz im Juni 2019 kommissarisch.
      Thorsten Schäfer-Gümbel, SPD-Vorsitzender in Hessen, Manuela Schwesig (Mitte), Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern und Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, übernahmen den Parteivorsitz im Juni 2019 kommissarisch. © Adam Berry/Getty Images | Adam Berry
      Ende 2019 hatten sich sechs Bewerberteams der SPD-Basis in 23 Regionalkonferenzen vorgestellt. Nach der ersten Wahl der Mitglieder gab es kein klares Ergebnis, deshalb traten Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken in einer Stichwahl gegen Vizekanzler Olaf Scholz und Klara Geywitz an. Walter-Borjans und Esken setzten sich durch. Sie führten die Partei von Dezember 2019 bis Dezember 2021.
      Ende 2019 hatten sich sechs Bewerberteams der SPD-Basis in 23 Regionalkonferenzen vorgestellt. Nach der ersten Wahl der Mitglieder gab es kein klares Ergebnis, deshalb traten Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken in einer Stichwahl gegen Vizekanzler Olaf Scholz und Klara Geywitz an. Walter-Borjans und Esken setzten sich durch. Sie führten die Partei von Dezember 2019 bis Dezember 2021. © FUNKE Foto Services | Reto Klar
      Norbert Walter-Borjans schied dann auf eigenen Wunsch aus der Parteiführung aus. Saskia Esken machte weiter. Beim SPD-Parteitag im Dezember 2021 entschied sich die Partei erneut für eine Doppelspitze.
      Norbert Walter-Borjans schied dann auf eigenen Wunsch aus der Parteiführung aus. Saskia Esken machte weiter. Beim SPD-Parteitag im Dezember 2021 entschied sich die Partei erneut für eine Doppelspitze. © dpa
      Neben Esken führt seither der bisherige SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil (*1978) die
      Neben Esken führt seither der bisherige SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil (*1978) die "Alte Tante SPD". © Privat | Privat
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      Aber auch in der Opposition könne man „verantwortungsvolle Arbeit“ machen, versucht sie sich und die SPD-Anhänger aufzurichten. Um die Partei sei ihr erst einmal nicht bange, sagt Schwesig: „Ich erlebe hier in Niedersachsen eine optimistische, lebendige, kämpferische SPD!“ Der Saal klatscht. Der Name Martin Schulz fällt an diesem Abend nicht.