Berlin. Die Union gewinnt die Wahl, kann sich aber kaum freuen. Das Ergebnis war noch nie so schlecht. Die CSU will einen konservativeren Kurs.
Um 17 Uhr wird im Konrad-Adenauer-Haus das Büfett eröffnet, eine Stunde später gibt es Saures – das Wahlergebnis. Es ist für CDU und CSU das bisher schlechteste Resultat. Die Chronik eines freudlosen Siegs.
So paradox kann Politik sein: Obgleich die Christdemokraten bei der Bundestagswahl mehr als jede andere Partei verloren haben, dürfen CDU und CSU weiter die Regierung anführen. CDU-Chefin und Kanzlerin Angela Merkel peilt schon mangels Alternativen eine Jamaika-Koalition mit FDP und Grünen an – auf Bundesebene wäre es eine Premiere.
CSU-Chef Seehofer: „Herbe Enttäuschung“
Die ganze Union ist bestürzt, gerade die erfolgsverwöhnte bayerische CSU. Sie landete im Freistaat unter 40 Prozent, eine unerhörte Erfahrung. Zumal es „lange nicht so aussah“, wie CSU-Chef Horst Seehofer in München bemerkt. Die „herbe Enttäuschung“ (Seehofer) sei bis Ende August nicht absehbar gewesen. Nach seiner Wahrnehmung kippte die Stimmung erst danach, also in der Schlussphase des Wahlkampfs.
Wie sehr auch Merkel betroffen ist, erkennt man nicht zuletzt daran, dass sie fast 50 Minuten braucht, bis sie sich bei ihren Anhängern in der CDU-Zentrale blicken lässt. „Wir brauchen nicht drum herumzureden“, sagt Merkel. Aber: Die Union sei die stärkste Kraft. Merkel lässt von vornherein keinen Zweifel daran, dass sie weiterregieren will. „Wir haben einen Auftrag, die Verantwortung zu übernehmen. Und gegen uns kann keine Regierung gebildet werden.“
War sich die Union zu selbstsicher?
Eine plausible Erklärung für den Dämpfer hat sie nicht parat. Ihr Vize und NRW-Landeschef Armin Laschet bemerkt, „viele haben gesagt, die Angela Merkel hat sowieso gewonnen“. War man zu selbstsicher? Die Analyse von Seehofer fällt ungleich (selbst?)kritischer aus. „Wir haben den Fehler gemacht: die rechte Flanke etwas offen gelassen.“ Er reflektiert das starke Abschneiden der rechtsnationalen Alternative für Deutschland (AfD).
Adenauer-Haus, am frühen Abend: Sie haben ihren Job gemacht, nun heißt es abwarten. In der zweiten Etage stehen die jungen Aktivisten von „Connect 17“ zusammen. Auf den Bildschirmen steht eine Zahl: 1.064.815. Auf so viele Hausbesuche brachten es die Wahlkämpfer. Was nützte es?
Debatte über die Zeit nach Angela Merkel steht an
Alle Messen sind gelesen. Merkel weiß es – anders als der Rest der Republik – bereits vor Schließung der Wahllokale, als sie am späten Nachmittag am Konrad-Adenauer-Haus vorfährt. Die CDU-Chefin ist vertraulich über die Umfragen informiert worden, die noch am Sonntag gemacht wurden und als treffsicher gelten. Sie kennt den Trend, kann sich sortieren, CSU-Chef Seehofer konsultieren, sich eine Erklärung zurechtlegen.
Merkel muss Stimmverluste verkraften und den Einzug der AfD in den Bundestag ertragen, im Laufe des Abends um eine Mehrheit für ihre sogenannte Wunschkoalition mit der FDP bangen. Früher oder später wird die Debatte über die Zeit nach ihr einsetzen, über die CDU nach Merkel – nach dem Ergebnis vom Sonntag eher früher als später.
AfD-Erfolg hat mit Merkels Politik zu tun
Am frühen Nachmittag hatte Merkel bei ihr um die Ecke ihre Stimme abgegeben, in der Mensa der Humboldt-Universität, und sich auf den Weg zur CDU-Zentrale aufgemacht. Merkel trägt einen orangefarbenen Blazer, dazu eine schlichte silberne Halskette. Sie fährt mit dem Aufzug in die fünfte Etage hoch und steuert auf das Ludwig-Erhard-Zimmer zu, wo sich das Präsidium, die Führungsspitze, versammelt.
Die Unwägbarkeit des Abends sind die Mehrheitsverhältnisse und die Regierungsbildung. Die ist in Deutschland traditionell eine knappe Sache, oft geben wenige Mandate den Ausschlag. Es ist kein einfaches Ergebnis: sieben Parteien im Bundestag, die AfD hat sich binnen vier Jahren fast verdreifacht. Das hat viel mit der CDU-Kanzlerin zu tun, mit ihrer Flüchtlingspolitik.
Differenzen zwischen CDU und CSU dürften sich verhärten
Die AfD ist jetzt schon in 13 Landtagen vertreten, und mit Niedersachsen (Mitte Oktober) und Bayern (2018) stehen im Laufe der nächsten zwölf Monate weitere wichtige Urnengänge an. Der Erfolg der deutschnationalen Partei bestätigt die schlimmsten Befürchtungen der CSU. Darob könnten sich die Differenzen mit der Schwesterpartei um eine Obergrenze für Flüchtlinge eher verhärten als entkrampfen.
Seehofer sagt schon am Abend einen Satz, der sich für die CDU wie eine Kampfansage anhören muss: „Am besten durch eine Politik, die gewährleistet, dass Deutschland Deutschland bleibt.“ Vermutlich wird sich die CSU jetzt in ihrer Forderung nach einer jährlichen Obergrenze für Migranten bestätigt fühlen und in den Koalitionsverhandlungen gerade darauf pochen. „Das wird sehr schwierig“, ahnt Innenminister Thomas de Maizière (CDU) mit Blick auf die Gespräche.
Hat Merkel ein Konzept gegen die AfD?
De Maizière wirkt nachdenklich und lässt sich sogar zu Spekulationen hinreißen: „Vielleicht ist die ganze Bevölkerung nach rechts gerückt“, philosophiert der CDU-Mann. Dafür spreche einiges, fügt er hinzu. Der Innenminister warnt zugleich jedoch davor, nun deshalb „das Vokabular der AfD zu übernehmen“. Die Frage ist, ob Merkel überhaupt ein Konzept hat, um die AfD zurückzudrängen. Daran hängt eine weitere Frage: ob die Kanzlerin dafür die richtige Frau ist.
Die Union hat laut ARD rund eine Million Wähler an die AfD verloren. Merkel beteuert, „wir wollen die Wähler und Wählerinnen der AfD zurückgewinnen“. Das „Wie?“ wird wahrscheinlich die wichtigste Frage sein, wenn die Führungsgremien der Union am Montag in Berlin und München das desaströse Wahlergebnis diskutieren. Merkels Stellvertreterin Julia Klöckner warnt denn auch, „nach diesem Ergebnis können wir nicht zur Tagesordnung übergehen. Themen, die die AfD-Wähler bewegen, wurden zu oft den Falschen überlassen.“
Mit wem soll die Union koalieren?
Fünf Etagen unterhalb der Führungsebene, im Erdgeschoss der CDU-Zentrale, geht es kurz vor 18 Uhr noch unbeschwert zu. Seit 17 Uhr strömen die Menschen unaufhörlich ins Gebäude, Mitarbeiter, Gäste, Journalisten, sie warten überall, verteilt über vier Etagen, auch auf den Balkonen, drängen und drängeln, drücken sich an die Seiten, einige sitzen im Treppenhaus auf den Stufen.
Die stark diskutierte Frage ist die nach dem künftigen Koalitionspartner. Der bisherige, die SPD, wäre nur ein Notnagel gewesen und will ohnehin in die Opposition. Von einer großen Koalition könnte keine Rede mehr sein. Zusammen kommen sie gerade mal auf über 50 Prozent.
Das Signal für Jamaika müsste vom rechten Flügel kommen
Da die Linkspartei und die AfD erklärtermaßen als Bündnispartner nicht infrage kommen, bleiben als Partner die FDP und die Grünen. Von beiden Parteien gibt es entsprechende Signale. Nachdem die SPD um jeden Preis in die Opposition gehen will, ist die CDU-Kanzlerin auf das Dreierbündnis angewiesen, hinter dem sich in Wahrheit sogar vier Parteien verbergen.
Schließlich ist die CSU eine eigenständige Kraft, wie Merkel nur allzu gut weiß. Wenn es mit den Grünen klappen soll, muss das entscheidende Signal dazu nicht von den üblichen Verdächtigen ausgehen, von Grünen-Verstehern wie Gesundheitsminister Hermann Gröhe oder Kanzleramtschef Peter Altmaier, sondern vom konservativen Teil der Union, von der CSU, am besten von Parteichef Horst Seehofer.
In Bildern: Sieger und Verlierer der Bundestagswahl
Einen aktuellen Kommentar zum Thema finden Sie hier: Ein Joint für Seehofer