Hamburg. Musik zu machen, das sei schwer. Warum das so ist und welche Komponisten er gern treffen würde, verrät der Stardirigent im Interview.

Es gab tatsächlich Zeiten, in denen war Christoph von Dohnányi nicht nur bewundert in dieser Stadt. Er wurde – je nach Arbeitsplatz und Problemstellung – wahlweise gefürchtet oder womöglich sogar gehasst, als er von 1977 bis 1984 Intendant und Chefdirigent an der Staatsoper war.

Und auch das Sinfonieorchester des NDR, das damals noch nicht die veredelnde Adresse Elbphilharmonie im Namen hatte, soll nicht durchgängig froh gewesen sein, sobald dieser Chefdirigent das Pult betrat und Präzision einforderte. Unerbittliche, geradezu gnadenlos scharfe Ohren, passend zum Intellekt und zum Perfektionismuswillen. Musikmachen kann man durchaus einfacher haben. Aber nur einfach war ihm immer zu simpel.

Stardirigent Christoph von Dohnányi im Interview mit dem Abendblatt

Diese NDR-Ära ging von 2004 bis 2010, sie endete vorzeitig und nicht im Guten, als die Arbeitsbedingungen für einen Zyklus mit allen Beethoven-Sinfonien nicht so waren, wie Dohnányi es sich vorstellte. Dann eben nicht, sagte er erst sich und dann den Verantwortlichen dort. Stress von gestern, längst verjährt. Nicht zuletzt durch seine wegweisende Kompetenz bei der Planung der Elbphilharmonie hat sich Dohnányi einen ewigen Ehrenplatz in der Hamburger Musikgeschichte verdient. Wäre alles mit dem Bau der Elbphilharmonie so glatt und flott gelaufen wie einmal geplant, dann hätte er das Eröffnungskonzert dirigiert. Das übernahm dann sein Nachfolger Thomas Hengelbrock, der Nächste, der beim NDR hingeworfen hat.

Christoph von Dohnányi mit der Johannes-Brahms-Medaille, die Bürgermeister Peter Tschentscher ihm verliehen hat.
Christoph von Dohnányi mit der Johannes-Brahms-Medaille, die Bürgermeister Peter Tschentscher ihm verliehen hat. © Roland Magunia

Mit etwas Abstand zu diesen Geschehnissen ist Dohnányi inzwischen zum NDR zurückgekehrt, als der elder maestro, der er mit mittlerweile 90 Jahren ist. Die letzten Konzerte mit seinem Ex-Orchester, das nun sein ehemaliger Assistent Alan Gilbert leitet, waren großartig. Die Freude beim Wiedersehen war offenkundig gegenseitig. Als überfällige Würdigung hat Christoph von Dohnányi – inzwischen Wahlmünchner, aber niemand ist perfekt – vom Senat eine Brahms-Medaille erhalten, für besondere Verdienste um das Musikleben in der Hansestadt. In der nächsten NDR-Konzertsaison soll es wieder Termine mit ihm geben, kündigte er an, als er für ein Podcast-Gespräch in die Abendblatt-Redaktion kam.

Abendblatt: Damit wir das mal gleich zum Start geklärt haben: Was ist das eigentlich, ein Stardirigent?

Christoph von Dohnányi: Es gibt zwei Arten – den Stardirigenten, der gemacht wird. Und den Stardirigenten, der sich macht.

In welcher Kategorie würden Sie sich sehen?

Von Dohnányi: Der sich macht.

Der französische Filmemacher François Truffaut hat ein legendäres Interview-Buch geschrieben, „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“. Ich war neulich bei Ihnen im NDR-Konzert, vielleicht können Sie mir erklären, wie Sie das gemacht haben, dass es so intensiv war. Wie geht das? Vielleicht ist das ja eine einfache Frage …

Von Dohnányi: Das ist nicht einfach, das ist eine schwierige Frage. Man macht das ja nicht. Der Kontakt mit dem Orchester muss beim Dirigieren immer hergestellt sein. Wenn diese Leitung nicht stimmt, dann kann auch die Leitung nicht stimmen. Das war besonders nett. Und dieses Orchester, mit dem ich nicht nur einfache Zeiten hatte, hat sich sehr offen gezeigt und sehr gut musiziert.

Aber den Weggang bereuen Sie nicht?

Von Dohnányi: Ach, wissen Sie, das Wiedersehen lässt einiges vergessen. Anderes erscheint in einem anderen, sehr viel milderen Bild. Letztlich ist es uns beiden immer um die Qualität gegangen.

Alle waren zu mindestens 110 Prozent präsent. Es gab eine große Dringlichkeit. Nichts lief irgendwie so durch.

Von Dohnányi: In dem Moment, wo die Neun vor der Null steht, ist es nicht schlecht, solange der Kopf in Ordnung ist. Die Beine sind’s bei mir nicht mehr so ganz. Aber die Musiker merken schon, dass ich mich ein Leben lang mit diesen Stücken beschäftigt habe. Was man natürlich nicht erwarten kann, wenn da ein 25-jähriger Violinist sitzt und das spielt. Die wollen viel erfahren von mir, viel wissen von mir. Es gibt Zeiten, in denen man sich Orchestern nahe fühlt. Und dieses Orchester war längere Zeit meines und ich dessen Dirigent. Es war also schon ziemlich wichtig, dass wir uns wiedertreffen.

Macht es Ihre Arbeit womöglich schwieriger, wenn Sie ein tolles Orchester vor sich haben, eines, das technisch keinerlei Probleme mehr hat? 98 Prozent laufen, aber die letzten zwei Prozent zur Vollendung, die sind die schlimmsten? Das Orchester kann sich ja nicht auf ein „Schade, wir sind halt nicht gut genug“ zurückziehen.

Von Dohnányi: So ist es natürlich nicht. Die Technik ist das Vokabular. Wenn Sie schreiben, müssen Sie das Vokabular beherrschen. Das Geschriebene, die Technik in der Musik, ist zu beherrschen.

Neulich sagten Sie: Dirigieren ist nicht schwer. Musik machen ist schwer.

Christoph von Dohnányi 1989 als Chefdirigent des Cleveland Orchestra, das er von 1984 bis 2002 führte (Archivfoto).
Christoph von Dohnányi 1989 als Chefdirigent des Cleveland Orchestra, das er von 1984 bis 2002 führte (Archivfoto). © Andreas Laible

Von Dohnányi: Nun ja, die Hände bewegen, solange man Arme hat, ist nicht schwer. Wenn man musikalisch ist, wird man sie im Allgemeinen auch nicht falsch bewegen. Nicht leicht ist: Wir können das Handwerk nur mit dem Orchester lernen. Das können auch ganz kleine sein, ein Kammerorchester, ein Streichquartett.

Das würde heißen: Jeder Dirigent ist nur so gut wie das Orchester, mit dem er zu tun hat?

Von Dohnányi: Nicht unbedingt. Sie müssen mit Menschen zu tun haben, mit denen Sie atmen und kommunizieren können, durch Ihre Bewegungen.

Nehmen Sie mich doch mal mit auf Ihr Dirigentenpult, an Ihren Arbeitsplatz. Wie toll ist das, dort diese Musik so unmittelbar gegen den Kopf, gegen das Hirn, gegen das Herz zu bekommen? Wie ist das?

Von Dohnányi: Diese Musik kommt Ihnen nicht ins Gesicht. Die studieren Sie ja zu Hause, und Sie lesen die Partituren. Das ist eine Begabungsfrage – dass man den Klang sich vorstellen kann. Die Intensivierung dieser Begabung ist, dass man sich das nicht nur vorstellt, sondern es echt hört. Das habe ich Gott sei Dank im Blut, nicht erlernt, sondern immer gehabt. Die Musik ist ja in mir. Sie ist in mir, bevor sie gespielt wird. Aber sie ist nicht dirigiert von mir, sondern sie entsteht. Es ist eine Begegnung mit etwas, dass Sie sich vorgestellt haben. Aber beim einen kommt etwas anderes heraus als beim anderen. Und es gibt den Erfahrungswert, der ist enorm wichtig. Deswegen ist in unserem Beruf das Alter nicht nur schlecht, solange man seine Vorstellungen hat und viel Jahre Erfahrungen, wie diese umzusetzen sind.

Kann und darf man dann sinnvoll und ernsthaft behaupten, man kenne ein Stück?

Von Dohnányi: Wir kennen nur eine Verantwortung in der Musik, und die ist dem Komponisten gegenüber. Es, wenn wir dran glauben, so zu machen, wie er sich das vorgestellt hat. Mit seiner Vorstellung in Gleichklang zu bringen. Und das schließt aus, dass man jemals zufrieden ist.

Das ist aber extrem frustrierend.

Von Dohnányi: Nein. Man kann glücklich sein in der Unzufriedenheit. Es muss immer noch Raum sein, um sich vorzustellen, dies oder jenes kann noch besser sein.

Also ist das Ziel, auf höherem Niveau zu scheitern.

Von Dohnányi: Scheitern würde ich nicht sagen.

Wenn Sie mit Orchestern arbeiten: Mögen Sie, dass Orchester Ihnen auch mal widersprechen?

Christoph von Dohnányi kann glücklich sein in der Unzufriedenheit.
Christoph von Dohnányi kann glücklich sein in der Unzufriedenheit. © Michael Rauhe

Von Dohnányi: Ja. Das liebe ich. Aber es muss nicht doof sein, sondern hochgescheit. Es muss ein Wille dahinterstecken. Es geht nur damit. Wenn ein Solo-Flötist, ein erstes Horn keine Persönlichkeit ist, können Sie den Laden vergessen.

Orchester, die zu allem Ja und Amen sagen, können Sie nicht ernst nehmen.

Von Dohnányi: Die gibt’s gar nicht. Die dirigiere ich nicht. Gute Orchester müssen ihre Meinung haben. Und man muss als Dirigent zunächst zuhören, was von denen angeboten wird. Man muss nicht sich etwas wünschen, was nicht da sein kann.

Ich möchte noch mal zurück auf Ihr Pult …

Von Dohnányi: … da kommen Sie aber nicht hin (lacht)

… trotzdem: Am Abend eines Konzerts, ganz kurz vor Beginn: Sie stehen an der Bühnentür. Ist das so wie bei Hans Koslowski, der morgens in aller Seelenruhe mit dem Bus zur Arbeit fährt? Über Lampenfieber sind Sie inzwischen doch wohl weg. Gibt es Aufregung …?

Von Dohnányi: Wehe dem, der lügt. Alle sind nervös.

Selbst Sie noch?

Von Dohnányi: Natürlich.

Hat das mit dem Stück oder dem Orchester zu tun?

Von Dohnányi: Gott sei Dank ist das so. Sie arbeiten lange an einem Programm. Gelingt, was man erreichen möchte? Gelingt es nicht? Oft bitte ich Musiker noch zu mir, wegen der einen oder anderen Stelle. Da muss man schon ein bisschen fiebern.

Und wenn Sie fertig sind, dann fällt es schwer, wieder von der Bühne zu müssen?

Von Dohnányi: Das fällt mir so wahnsinnig leicht, von der Bühne zu müssen. Ich genieße das Konzert, und danach bin ich froh, wenn die Menschen es gemocht haben. Aber gerade im Moment fällt mir wegen meiner Beine das Rein- und Rauslaufen schwer. Das wird hoffentlich wieder besser werden.

Ist das Dirigieren im Sitzen eine andere Angelegenheit als im Stehen?

Von Dohnányi: Ich merke das nicht so sehr. Ich probiere ja auch immer im Sitzen.

Noch eine praktische Frage: Ist es entspannender, wenn eine Partitur vor einem liegt? Oder leistet das womöglich der eigenen Faulheit Vorschub, weil man sich damit nichts mehr merken muss, da steht ja alles?

Von Dohnányi: Das kommt sehr auf den Einzelnen an … Die geschlossene Partitur habe ich ganz gern vor mir. Dann steht draußen drauf: „Tschaikowsky, 6. Sinfonie.“ Und den Rest mach ich so.

Ist Dirigieren wie Fahrradfahren? Geht das nach einer Pause, als wäre nichts gewesen, oder braucht es zunächst einige Runden?

Von Dohnányi: Wenn Sie nicht zwischendurch lebendig an Musik arbeiten, könnte es vielleicht passieren, dass man etwas fremdelt. Aber ich habe das nie erlebt.

Gibt es Komponisten, von denen Sie inzwischen meinen, dass Sie mit deren Musik Zeit verschwendet haben?

Von Dohnányi: Würde ich nicht sagen. Ich habe neulich eine Sinfonie von Suk gehört, sehr, sehr gut dirigiert …!

Von Kirill Petrenko, bei den Berliner Philharmonikern?

Von Dohnányi: Ja. Exzellent dirigiert. Und trotzdem: nicht my cup of tea.

Wenn Sie einen Komponisten treffen könnten, wer wäre die erste Wahl?

Von Dohnányi: Ich würde mir zwei einladen: Bach und Beethoven zusammen.

Warum die beiden?

Von Dohnányi: Beethoven hat etwas mehr Glück gehabt, wenn man das Karriere nennen darf. Bach war ja in seiner Zeit kein sehr bekannter und beliebter Komponist, die Söhne haben ihn teilweise ausgepokert. Und bei Beethoven ist es das Phänomen, über das wir vorhin sprachen: dieses innere Klangbild, das er zwangsläufig komponieren musste, weil er relativ jung sein Gehör verlor. Wahnsinnig interessant. Denn auch Bach hat immer aus dem Kopf geschrieben, hat aber immer die Kontrolle gehabt, durch wöchentliche Aufführungen.

Wir hatten im Januar drei Jahre Elbphilharmonie rum. Wie ist jetzt Ihre Meinung als Nicht-mehr-Hamburger in München zu dem Haus und dem Saal?

Von Dohnányi: Ich habe nur wenig gehört, einige Proben gesehen. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass es eine exzellente Halle ist. Bin fest davon überzeugt, dass die Akustik total manageable ist. Ich wäre für eine, wie soll ich sagen: kleine Inspektion des Halls. Ich könnte mir ein bisschen mehr Raum vorstellen. Für einen erfahrenen Dirigenten und ein erfahrenes Orchester, die auf Tourneen in vielen Sälen gespielt haben, ist es eine wunderbare Halle. Neulich, die Trompete in Ives’ „Unanswered Question“, die könnte eine Spur mehr Raum kriegen im Klang. Daran würde ich arbeiten. Das heißt nicht, dass man es ungenügend findet. Aber das Gute kann man immer noch verbessern.

Wissenswertes zur Elbphilharmonie:

  • Die Elbphilharmonie ist ein Konzerthaus, das als neues Wahrzeichen von Hamburg gilt
  • Sie wurde im Januar 2017 offiziell eröffnet
  • Das 110 Meter hohe Gebäude liegt in der HafenCity in Hamburg und soll mit seiner Form an Wellen, Segel und Eisberge erinnern
  • Wo heute die Elbphilharmonie steht, befand sich früher der Kaiserspeicher A
  • Das Konzept der Elbphilharmonie stammt von Projektentwickler Alexander Gérard und wurde bereits 2001 vorgestellt. Der Bau dauerte von 2007 bis Ende 2016
  • Die Baukosten betrugen 866 Millionen Euro

Die erste Runde mit Thomas Hengelbrock ist durch, jetzt ist Alan Gilbert als NDR-Chefdirigent in der nächsten Etappe, um Dinge zu polieren. Welche Notwendigkeiten sehen Sie da?

Von Dohnányi: Alan Gilbert war lange mein Assistent, und ich war immer dafür, dass er mein Nachfolger beim NDR wird. Schon damals gleich. Aber damals ist man mit einem vom NDR unterschriebenen Vertrag zu ihm nach Schweden und legte ihm den vor. Da sagte er: Ihr müsst nicht bös sein, aber ich habe meinen Vertrag mit den New Yorker Philharmonikern. Als New Yorker total verständlich. Er hat sehr viel in New York gelernt, das kann diesem Orchester jetzt nur zugutekommen. Ich halte ihn für eine sehr gute Wahl. Er hat gute Ohren, Geschmack und Stabilität. Ich würde ihm jedes Orchester anvertrauen.

Probenfotos Christoph von Dohnanyi in der Elbphilharmonie mit dem NDR Orchester; Kultur, Mischke
Probenfotos Christoph von Dohnanyi in der Elbphilharmonie mit dem NDR Orchester; Kultur, Mischke © Andreas Laible

Finden Sie, dass das NDR-Orchester, das Residenzorchester in der Elbphilharmonie, und der Große Saal mittlerweile auf Augenhöhe sind?

Von Dohnányi: Also, schielen tun sie nicht.

Es gibt einige schwierige Debatten in der Klassikwelt: über Barenboims Führungsstil, über Domingos angebliches Verhalten, über die #MeToo-Thematik. Von Ihnen habe ich als Zitat gefunden: „Man darf als Chef immer nicht nur beliebt sein.“ Ihre Meinung dazu?

Von Dohnányi: Goethe hat in seinen „Zahmen Xenien“ geschrieben: „Warum sollte ich geringer denken über mich, nur weil ich Feinde habe?“ Feinde hat man immer, das müssen nicht böse Feinde sein.

Die Grundfrage jetzt ist doch: Welche Art von Respekt bei der Zusammenarbeit soll, kann, muss man haben?

Von Dohnányi: Wir haben in unserer Familie gelernt, dass man sich gegenseitig mit höchstem Respekt begegnet. So wird man erzogen, wenn die Eltern Zeit zur Erziehung haben. Dass man trotzdem sehr anderer Meinung sein kann, ist selbstverständlich.

Sie kommen aus einer Familie, in der es Widerstandskämpfer gab. Wir haben 2020, in der politischen Stimmung in diesem Land sind Rechtspopulisten sehr präsent. Präsenter, als sie es verdient haben, präsenter, als es gut ist. Ist das jetzt die Zeit für Künstler, um sich einzumischen? Oder haben Künstler in der Politik nichts zu suchen?

Von Dohnányi: Das ist nicht so generell zu beantworten. Wenn die Leute rechts außen von Kultur reden, muss man davon ausgehen, dass sie von etwas anderem reden als wir. Kultur ist bei uns a priori verbunden mit dem Gedanken geistiger Freiheit und Toleranz. Aber: Freiheit ist das große Problem unserer Zeit, Freiheit kann auch sehr missbraucht werden und wird auch sehr missbraucht.

Die beiden Brüder Christoph und Klaus von Dohnanyi im Hamburger Rathaus­ nach der Verleihung der Brahms-Medaille.
Die beiden Brüder Christoph und Klaus von Dohnanyi im Hamburger Rathaus­ nach der Verleihung der Brahms-Medaille. © Roland Magunia

Die Menschen, die sich mit der Kultur ernsthaft befassen, müssen sich sehr wohl einmischen, weil gerade Kultur uns lehrt, die Grenzen der Freiheit zu erkennen. Kultur, Kunst, alles, was wir täglich tun, braucht Form. Die Form ist gesetzt und ist Gesetz. Mein Bruder hat mir gerade Canettis Buch „Masse und Macht“ geschickt ... Die Erkenntnis der Grenzen der Macht ergeben sich eigentlich durch Erziehung.

Wenn Sie jetzt sehen, was in diesem Land passiert, was an Radikalisierung vor sich geht, wie wirkt das auf Sie?

Von Dohnányi: Das ist für mich ein Resultat von Führungslosigkeit. Es fehlen Menschen, die maßgeblich sagen, was ihre Vorstellungen sind. Und auch, wo die Wege sind.

Machen Künstler es sich zu einfach, wenn sie sagen: Ich will „nur“ meine Musik spielen, meine Bücher schreiben, und der Rest juckt mich nicht, ich bin Künstler?

Von Dohnányi: Dann machen sie es sich sehr einfach, weil es blöd ist. Ich will nur meine Bücher schreiben? Kann man gar nicht. Ein geistig arbeitender Mensch muss sich um Politik kümmern, so ist das nun mal. Er muss auch Krisen erkennen.

Um in der Kunst gut zu sein, darf man sich also nicht in den Elfenbeinturm zurückziehen ...

Von Dohnányi: Das geht gar nicht. Sie können die Kunst nicht aus der Struktur der Gesellschaftsordnung herauslösen. Wir leben in einer totalen Konsumgesellschaft. Und die Brandblasen dieser Konsumgesellschaft, die erleben wir eben auch in der Kultur.

Wenn jemand zu Ihnen kommt und meint: Ich möchte nur einen schönen Abend mit der Musik haben und mich gut unterhalten.

Von Dohnányi: Dann würde ich sagen: Wenn sich einer nur gut unterhalten will, muss er dahin gehen, wo er das kriegt. Bei mir nicht.

Eine Themenwende: Ihr Gehör ist gerühmt bis gefürchtet. Sie hören gewissermaßen, wenn zwei Städte weiter ein Instrument verstimmt ist. Trainieren Sie das noch?

Von Dohnányi: Mein Gehör schulen diejenigen, die das in Anspruch nehmen. Es ist nicht so irrsinnig, aber es ist schon ein scharfes Ohr, das muss ich zugeben. Es hat mir nur geholfen und den Orchestern, die ich dirigiert habe.

In den Gratulationen zu Ihrem 90. Geburtstag fanden sich auch Etiketten wie „Perfektionist“ oder „Pedant“. Ist das Lob oder Kritik?

Von Dohnányi: Noch mal Goethes „Xenien“, wo er sinngemäß schrieb: Ich lobe, dass ich getrost ein Pedante bin. Mir hat die sogenannte Pedanterie nie geschadet. Und den Orchestern erst recht nicht. Das ist Genauigkeit, das ist Forschungstrieb, das ist Wissenschaft, das ist auch emotional erkennen, wie weit ich gehen kann. Wann kippt es um? Ein Tschaikowsky kann furchtbar schnell umkippen in falsche Emotionalität. Und ich nehme ihn streng und wirklich philosophisch beim Wort. Nicht privatemotional, abhängig von irgendwelchen Gänsehäuten, die da entstehen.

Ihr Kollege Herbert Blomstedt, zwei Jahre älter als Sie, hat mir neulich gesagt, er fühle sich jeden Tag wie ein Anfänger. Das fand ich einerseits rührend, aber auch erschreckend. Denn „Anfänger“ wäre bei ihm nicht das erste Wort, das mir einfallen würde.

Von Dohnányi: Aber wissen Sie: Er spricht nicht ganz fließend Deutsch. Er meinte, er fühlt sich wie jemand, der der Materie immer wieder von Neuem begegnet. Das meinte er.

Was Sie auch interessieren könnte:

Wird ein Dirigent älter oder besser?

Von Dohnányi: Es gibt welche, die älter und besser werden.

Wenn Sie zwischen einem Musikstück und einer Portion Stille wählen sollten, was wäre Ihnen lieber?

Von Dohnányi: Ich würde einen Kompromiss machen: stille Musik.

Können Sie sich vorstellen, einfach aufzuhören? Eines Morgens aufwachen und sich sagen: Ach nö, jetzt ist gut?

Von Dohnányi: Das hängt von meinem Herzen ab …

… Na ja, von medizinischen Dingen mal abgesehen …

Von Dohnányi: Davon können Sie nicht absehen. Das ist das Wichtigste (lacht).