Das Schauspiel Frankfurt zeigt in Hamburg mit Ödipus/Antigone, wie erfolgreiches Stadttheater funktioniert. Antiker Stoff für aktuelle Kritik.

Hamburg. Für viele Hamburger scheint die Krise des Schauspielhauses gefühlt schon überwunden. Die übersichtliche Schar bei der Matinee "Die Zukunft des Stadttheaters - zwei Ansichten" im Malersaal kam jedoch in den Genuss eines pointierten Gedankenaustausches zwischen Oliver Reese, erfolgreicher Intendant des Schauspiels Frankfurt, und dem Literaturwissenschaftler und langjährigen GAL-Abgeordneten Willfried Maier.

Massiv kritisierte Reese den Plan von Kultursenator Reinhard Stuth, noch in diesem Jahr einen Intendanten für das Schauspielhaus benennen zu wollen. "Liebe Hamburger, das ist ein Skandal!" Zwei Monate vor den Neuwahlen fehle jede Legitimation.

Maier führte den Aufmerksamkeitsverlust des Theaters gegenüber dem Roman oder der Fernsehserie ins Feld. Reese widersprach. Es müsse allerdings zu einer neuen Reibung zwischen der Politik und den Künsten kommen. Das Stadttheater sei unverzichtbar, der Erfolg seines und anderer Häuser belege das: "Es gibt eine Sehnsucht nach dem gut gesprochenen Gedanken und nach herausragenden Schauspielern."

Reese hat sein Ensemble aufgestockt, verzichtet meist auf Gäste. "Wir müssen Leidenschaften entfachen, mit unserem ureigensten Material überzeugen. Theater braucht Hits." Solche Hits haben dem ehemaligen Intendantenstellvertreter am Deutschen Theater Berlin in letzter Sekunde eingeleitete Vertragsverlängerungen gebracht.

Wie quicklebendig das geliebte, gescholtene Stadttheater sein kann, bewies das ausverkaufte Gastspiel im Schauspielhaus am Vorabend, das Oliver Reese aus Frankfurt als Solidaritätsgeschenk mitgebracht hatte: "Ödipus/Antigone" von Sophokles, in der Regie von Michael Thalheimer grandios verdichtet auf Gesten von fast bildhauerischer Konzentration und einer zugespitzten Sprache (Übersetzung: Ernst Buschor). Der hierzulande noch wenig bekannte Marc Oliver Schulze verrenkt sich derart gekonnt, dass er fast an eine Minotaurus-Gestalt aus einem Gemälde Picassos erinnert. Jedes einzelne hervorgepresste Wort sitzt wie ein Nadelstich. Ein Gänsehaut-Auftritt. Auch das übrige Personal glänzt. Constanze Becker gibt Königin Iokaste, Ödipus' Mutter und Ehefrau, eine Eisigkeit, die sie mit minimalen Gesten durchbricht. Eine Hand krallt sich um den Busen, die andere ums Geschlecht, der Mund öffnet sich zum tonlosen Schrei.

Erfolgsregisseur Michael Thalheimer treibt sein Prinzip der Strenge und des expressiven Ausdrucks in neue Höhen. Natürlich verhandelt sie keine subjektive Befindlichkeit, sondern große Fragen von Individuum und Gesellschaft. Noch deutlicher wird das im zweiten "Antigone"-Teil, als Schulze, nun als verblendeter Herrscher Kreon, den Staat über die Familienehre eines ordentlichen Begräbnisses stellt und damit seine ganze Familie auslöscht.

Wer vermessene Befehle erteile, ernte Schläge, so der Chor. Die Erkenntnis und die Umkehr, die sich nach einem warnenden Monolog des blinden Sehers Teiresias einstellen, sie kommen zu spät. Die Anspielung auf die kulturpolitischen Scharmützel in Hamburg sitzt. Am Ende des fast vierstündigen Abends lauscht man Gesprächen wie diesem: "Der Monolog des Teiresias hat mich total an die FDP erinnert." Einen schöneren Beleg für die Lebendigkeit des Stadttheaters kann es nicht geben.