Die Engagierten Wilhelmsburger demonstrieren mit der makabren “5 vor 12“-Aktion gegen die Planung zur verlegten Reichsstraße.

Wilhelmsburg. Mit einer makabren, theatergleichen Politperformance haben am Sonnabend etwa 70 Menschen gegen die von ihnen erwarteten Auswirkungen der 2018 geplanten Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße demonstriert. Mit künstlichem Blut geschminkt, legten sich dazu ein Dutzend Aktivisten der Bürgerinitiative Engagierte Wilhelmsburger als Verkehrsopfer auf die Fahrbahn der Rotenhäuser Straße. Die Tempo 30-Zone, in der sich eine Schule und ein Altenheim befinden, soll nach den derzeitigen Plänen zur Anschlussstelle der vierspurigen Schnellstraße führen.

Es ist Sonnabend, 11.55 Uhr, als sich die Männer und Frauen in theaterblutverschmierten weißen Maureranzügen auf die Fahrbahn der Rotenhäuser Straße in Wilhelmsburg vor einen mitgebrachten Lkw legen. "5 vor 12" nennen die Engagierten Wilhelmsburger ihre spektakulären Protestaktionen, mit denen sie immer wieder seit drei Jahren auf die ihrer Meinung nach Missstände vor allem der Verkehrsplanung aufmerksam machen. Sympathisanten der schauerlichen Prozession tragen schwarze Kreuze mit der Aufschrift "Lärmopfer". Andere halten konventionelle Protestschilder hoch: "Geplant - verarscht", steht auf einem drauf und drückt in nur zwei Worten die Wut darüber aus, was die Bürgerinitiative von der bisherigen Bürgerbeteiligung der Stadt denkt. "Der Süden muss lebenswert bleiben" lautet das Postulat auf einem anderen Demo-Schild. "Die Anschlussstelle einer autobahnähnlichen Straße in eine Tempo-30-Zone münden zu lassen, ist menschenverachtend und verkehrsplanerischer Unsinn", sagt Jochen Kleine. Der Immobilienverwalter ist Sprecher der Engagierten Wilhelmsburger, die nach eigenen Angaben 300 Mitstreiter haben. Eine Erklärung, wie dieser "Unsinn" entstehen konnte, hat er auch: Wo die Anschlussstelle verkehrstechnisch Sinn mache, sagt er, sei sie politisch nicht gewollt, nämlich dort, wo zurzeit das neue Gebäude der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt entsteht. Wo die Anschlussstelle jetzt geplant sei, könne sie nicht funktionieren. Laut einer Prognose würde der Verkehr in der Rotenhäuser Straße um 900 Prozent auf etwa 12 000 bis 15 000 Fahrzeuge am Tag zunehmen, sagt Jochen Kleine.

Eine Alternative bietet Jochen Kleine den Stadtplanern nicht an: "Ich werde doch niemandem eine Schnellstraße vor die Haustür empfehlen", sagt er. Daraus wird auch deutlich, dass die Bürgerinitiative die geplante, bis zu 26 Meter breite Schnellstraße über die Elbinsel am liebsten gar nicht haben möchte. "Wir sähen gerne die alte Reichsstraße zum Boulevard ausgebaut - mit Höchsttempo 50 und Übergängen für Fußgänger und Radfahrer", erklärt Sabine Borndorf ihre Vision von einer besseren Straßenplanung. Das würde die Zerschneidung der Elbinsel mit zwei Autobahnen und Eisenbahnschienen lindern. Die 49-Jährige ist in Wilhelmsburg geboren und spielt eines der Verkehrsopfer bei der Protestaktion. Indes befragt die Sensationsreporterin einer Boulevardzeitung die angefahrenen Menschen auf der Fahrbahn. Britta Müller von den Engagierten Wilhelmsburgern spielt die zynische Journalistin. Die Protestaktion ist mittlerweile ein Schauspiel. Sie habe zur Schule an der Rotenhäuser Straße gewollt. Aber der Bildungsweg werde immer länger, krächzt die halb tote Frau der Reporterin gleich zwei Seitenhiebe auf die Hamburger Politik ins Mikrofon. "Bildung? Die braucht dieser Stadtteil doch nicht", antwortet die Journalistin kalt. Der Dialog spiegelt das Gefühl der meisten Menschen in Wilhelmsburg wider, vom Senat nördlich der Elbe, egal welcher Couleur, als Hinterhof Hamburgs missachtet zu werden.

Was bisher den Menschen auf der Elbinsel an Bürgerbeteiligung bei den Planungen zur Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße zugebilligt worden sei, empfindet Britta Müller als Frechheit. Von Anfang an hat sie bei den Engagierten Wilhelmsburgern mitgemacht. Das Ziel der Initiative sei, Denkanstöße im Stadtteil zu geben. Die inszenierten Proteste seien der beste Weg dazu. "Es macht Sinn, die Leute mit solchen Aktionen anzusprechen", sagt Britta Müller. Das wirke viel besser als nur Protestschilder in die Luft zu halten.

Jochen Kleine beendet nach etwa 20 Minuten das Freiluft-Theater auf der Straße. Mit Blick auf die blutverschmierten Politprovokateure seines Ensembles, erklärt er zum Abschluss: "Wir möchten, dass dieses Bild nicht Realität wird." Am Ende applaudieren die Zuschauer auf dem Bürgersteig.

Seit Juni 2009 machen die Engagierten Wilhelmsburger mit ihren effektvoll inszenierten "5 vor 12"-Demonstrationen Politik.

Mit Liegestühlen, Luftmatratzen und Gummipalmen auf dem Gehweg kämpften sie damals für den Erhalt des Hallenbades. Als Elbinsel-Auswanderer verblüfften sie Menschen auf der noblen Hamburger Meile Neuer Wall oder demonstrierten als Prostituierte verkleidet gegen das Wohlwollen der Grünen über die Verlegung der Reichsstraße.

Am 11. September steht das nächste öffentliche Politspektakel an: "Schlaflos in Kirchdorf" lautet der Titel der "5 vor 12"-Demo. Ihre kreativen Provokationen denken sich die Engagierten Wilhelmsburger jeden Dienstag ab 19 Uhr im Bürgerhaus an der Mengestraße aus.