Bergedorf. Der legendäre bz-Chefredakteur und seine Schachzüge in den turbulenten Jahren von 1968 bis 1975 an der Spitze unserer Redaktion.

Er führte die Bergedorfer Zeitung durch die turbulentesten Jahre der jungen Bundesrepublik: Karl Mührl war Chefredakteur von März 1968 bis Juni 1975. Im frisch errichteten Verlagshaus am Curslacker Neuen Deich stand „kamü“, wie er von allen wegen seines Kürzels genannt wurde, deshalb zwangsläufig zwischen den politisch-emotionalen Lagern der kritischen linken 68er-Jugend einerseits und ihrer konservativen Eltern-Generation andererseits, für die in Bergedorf der Verlag von Axel Springer eine besondere Rolle spielen sollte.

In Bergedorf sollten beide Seiten sogar besonders heftig aufeinanderprallen, was sein ganzes journalistisches Geschick forderte: Kaum ein Jahr im Amt als Chefredakteur hatte Karl Mührl unangenehmen Besuch. Am 31. März 1969 stürmten 50 Aktivisten der APO sein Büro. Die in Bergedorf besonders aktive, sozialistisch-kommunistische „Außerparlamentarische Opposition“ um den späteren Museumsleiter Alfred Dreckmann hatte zum „Go-in“ aufgerufen. Denn die APO hatte erfahren, dass in der Druckerei des Hauses das NPD-Parteiblatt gedruckt wurde.

Bergedorfer Zeitung: APO-Aktivisten stürmen ins Büro des Chefredakteurs

Mührl stellte sich den „Gästen“ in einem zweistündigen Streitgespräch bis kurz vor Mitternacht. Es gelang ihm, den politisch bewegten jungen Leuten zu erklären, dass es sich nur um einen Auftrag der Druckerei, nicht aber um die politische Überzeugung der Bergedorfer Zeitung handelte. Und die titelte gleich am nächsten Tag: „Die APO kam um 21.30 Uhr“. Zudem öffnete „kamü“ den engagierten jungen Leuten das Blatt, indem er ihre Aktionen gegen den damals auch in Bergedorf noch sehr aktiven rechten Rand des politischen Spektrums intensiv journalistisch begleiten ließ.

Chefredakteur Karl Mührl beim „Go-in“ der APO am Abend des 31. März 1969 in den Räumen der Bergedorfer Zeitung. In der Hand hält er die NPD-Parteizeitung.
Chefredakteur Karl Mührl beim „Go-in“ der APO am Abend des 31. März 1969 in den Räumen der Bergedorfer Zeitung. In der Hand hält er die NPD-Parteizeitung. © BGZ | Archiv Dreckmann

Aber nicht nur mit diesem Pulverfass hatte der gelernte Sportredakteur zu tun, der sein Handwerk gleich nach Wiedererscheinen der Bergedorfer Zeitung nach dem Krieg ab 1949 hier erlernt hatte. In Mührls Ära fiel auch der Einstieg des Verlegers Axel Springer in das Verlagshaus. Anfang der 1970er-Jahre übernahm mit ihm die Hass-Figur der 68er-Studenten die Mehrheitsanteile der „Bergedorfer Buchdruckerei von Ed. Wagner“. Zum Glück für Karl Mührl hatte die Bergedorfer APO da aber schon ihre Schlagkraft verloren, war als ohnehin nur loses Bündnis schon in Auflösung begriffen.

Übernahme der Bergedorfer Zeitung war für Axel Springer ein Herzenswunsch

So konnte die Übernahme durch den prominenten Verleger ohne Proteste ablaufen. Ein Akt, der für Axel Springer offenbar ein Herzenswunsch war: Er hatte 1932/33 selbst sein journalistisches Handwerk bei der Bergedorfer Zeitung gelernt.

Dass er sich knapp 40 Jahre später tatsächlich die Mehrheit sichern konnte, lag am Schicksal der Verleger-Familie Wagner. Als Kopf der dritten Generation hatte Reinhard Wagner noch die größte Investition in der Geschichte des Verlags gewagt und von 1965 bis 1967 im Gewerbegebiet am Curslacker Neuen Deich neu gebaut.

Sämtliche 150 Mitarbeiter zogen vom alten Stammsitz am Bergedorfer Markt hinaus ins gut 500 Meter entfernte Gewerbegebiet. Alle Abteilungen, mit Ausnahme der Geschäftsstelle, verließen die Innenstadt, weil die ebenfalls angeschaffte hochmoderne, riesige Druckmaschine aus baupolizeilichen Gründen nicht in direkter Nachbarschaft zu den vielen Altbauten dort in Betrieb gehen durfte.

Neubau des Verlagshauses am Curslacker Neuen Deich wird Erfolgsgeschichte

Es sollte ein perfekter Schritt für die weitere Entwicklung des Verlags und seiner Zeitung werden, die schon 1974 auf 250 Mitarbeiter und eine Auflage von annähernd 30.000 Exemplaren wuchsen. Doch 1972 starb mit Reinhard Wagner der Enkel von Verlagsgründer Carl Eduard Wagner († 1909) nach fast 50 Jahren im Verlag, davon mindestens 19 als Chef.

Werbefoto für das Abonnieren der Bergedorfer Zeitung um 1970, entstanden auf einer Sandbank an der Elbe bei Geesthacht, mit Karin Korth (bz-Anzeigenabteilung), Sohn Jens Peter und Klaus Köchel (aus der bz-Druckerei)
Werbefoto für das Abonnieren der Bergedorfer Zeitung um 1970, entstanden auf einer Sandbank an der Elbe bei Geesthacht, mit Karin Korth (bz-Anzeigenabteilung), Sohn Jens Peter und Klaus Köchel (aus der bz-Druckerei) © Archiv Karin Korth | Egon Klebe

Auch die zweite Linie der Eigentümer, die Tochter und Enkelin von Wilhelm Bauer, dem Schwiegersohn des Gründers, starben kurz nacheinander. Die Geschäftsführung hatte der zuletzt erblindete Richard Wagner schon 1969 an den angestellten Verlagsleiter Hans-Joachim Gangloff übergeben. Damit waren strategische Zukunftsentscheidungen wie die eines selbstständigen Unternehmers kaum noch möglich.

Wie es weiterging, beschreibt Karl Mührl so: „Für die Erben der Gestorbenen stellt sich um 1970 die Frage, vor der viele Besitzer mittlerer Lokalzeitungen stehen: Allein weitermachen und in die Gefahr geraten, eines Tages in dem immer existenzgefährdender werdenden Kostenstrudel unterzugehen, oder zu kooperieren, sich einem Großen anzuschließen. Die Wagner- und Bauer-Erben entschließen sich zu letzterem: Zur Sicherung des Unternehmens bieten sie den größten Teil des Familienbesitzes dem seit Jahrzehnten befreundeten Springer-Verlag an. So wird Axel Springer Mehrheitsgesellschafter in der ,bz’.“ Nur Wolf-Dieter Plate, Nachfahre der Bauer-Linie, behielt bis in die 90er-Jahre noch eine Minderheitsbeteiligung.

Verleger-Familie sieht 1883 als Gründungsdatum, doch Springer will schon 1974 feiern

Erschienen ist Karl Mührls Text am 25. Mai 1974 übrigens in der Sonderausgabe zum 100. Geburtstag der Bergedorfer Zeitung. Wer genau nachrechnet, der wundert sich, hatten die Wagners doch stets das Jahr 1883 als Gründungsdatum gefeiert – das 50. Jubiläum 1933 sogar mit dem damaligen Volontär Axel Springer und am 15. September 1958 zuletzt dann auch den 75. Zeitungsgeburtstag. Dass nur 16 Jahre später der 100. gefeiert wurde, scheint von Springer selbst festgelegt worden zu sein, wollte er nach der Übernahme offenbar nicht unnötig lange mit der Party werden.

Karl Mührl konnte das in der Jubiläumsausgabe natürlich nicht enthüllen. Schließlich kam Axel Springer am 25. Mai sogar persönlich nach Bergedorf, feierte mit und hielt sogar noch eine Rede über seine ersten Schritte als Journalist im alten Verlagshaus am Bergedorfer Markt.

Die geschickten Formulierungen des Chefredakteurs Karl Mührl

Also formulierte der geschickte Chefredakteur so: „Streit gab es zwar nicht um diesen 100. Geburtstag, bevor er endgültig auf den 25. Mai 1974 festgelegt wurde. Es bedurfte jedoch vieler Recherchen und Nachforschungen unter anderem im Hamburger Staatsarchiv und auch im Bergedorfer Museum, ehe dieser Termin endgültig stand. Und echt ist dieser ,100.’ auch nur insofern, als die ,bz’ im Mai 1874 erstmals täglich erschien. Der Chronist hakte hier ein: Seit 100 Jahren also haben die Bürger in und um Bergedorf eine lokale Tageszeitung – ihre Bergedorfer Zeitung.“

Dass Axel Springer kein Interesse hatte, die Wagnersche Tradition fortzuführen und die Gründung der „Bergedorfer Buchdruckerei von Ed. Wagner“ von 1883 als Gründungsdatum der Bergedorfer Zeitung zu feiern, ist verständlich. Und tatsächlich war der Titel sogar schon am 1. Oktober 1866 als „Nordischer Courier – Bergedorfer Zeitung“ erstmals gedruckt worden. Das durchgängige Erscheinen als Tageszeitung begann dagegen erst im Juli 1894.

Alles das hatten Karl Mührl und sein Team übrigens im September 1958 selbst geschrieben – in der damaligen Jubiläumsausgabe zum 75. Geburtstag der Wagnerschen Bergedorfer Zeitung. Trotzdem hat sich 1874 als „offizielles“ Gründungsdatum unserer Zeitung etabliert: 1999 wurde der 125. Geburtstag mit großem Empfang im Zollenspieker Fährhaus begangen – erstmals ohne den legendären Chefredakteur, der schon im Juni 1998 gestorben war. Er ist 79 Jahre alt geworden. Im Nachruf unserer Zeitung heißt es, „kamü“ sei „geradlinig, mit kritischem Misstrauen und gefürchteten Zornesausbrüchen“ ausgestattet gewesen. „Und mit sehr viel kreativem Geschick“, möchte man ergänzen, angesichts unseres nun für 2024 in Vorbereitung befindlichen 150-jährigen Jubiläums...