Hamburg hat die Wahl: Am 25. Mai werden die Bezirksversammlungen neu besetzt. Bergedorf ist nur im Zentrum städtisch, durch die Vier- und Marschlande aber ländlich geprägt. Wer „in die Stadt geht“, meint das eigene Zentrum, nicht die City

Die Sternwarte als angehendes Weltkulturerbe, ein malerisches Villengebiet, modernes Wohnen und Arbeiten am Wasser in der Schleusengraben-Region direkt neben der City – Bergedorf hat weit mehr zu bieten, als sein Ruf als Hamburger Provinz ahnen lässt. Vielleicht haben die Bergedorfer aber auch ihren Teil dazu beigetragen, als die etwas anderen Hamburger wahrgenommen zu werden: Wer hier „in die Stadt“ fährt, der meint Bergedorfs City. Geht es dagegen Richtung Mönckebergstraße, Neuer Wall & Co., reist der Bergedorfer „nach Hamburg“.

Tatsächlich versteht sich Bergedorf als Großstadt in der Metropole Hamburg, sieht sich in einer Liga mit Schwerin, Lüneburg und Lübeck. Bei gegenwärtig 121.885 Einwohnern (Stand 2013), der vom Umsatz her zweitwichtigsten Einkaufsstraße Hamburgs und einem Einzugsbereich von gut 250.000 Menschen eine logische Perspektive. Gleichzeitig ist Bergedorf in guter hanseatischer Tradition sozialdemokratisch. Nie stellte hier eine andere Partei als die SPD den Bezirksamtsleiter, den die Bergedorfer natürlich ihren „Bürgermeister“ nennen. Allerdings hat Bergedorf mit dem Groß-Hamburg-Gesetz 1938 seine Stadtrechte verloren, ist seither zum Verwaltungsbezirk der Hansestadt geworden.

Um das bis heute große Selbstbewusstsein der Bergedorfer zu verstehen, braucht es also einen kleinen Ausflug in die Geschichte. Die Hamburger Zeit an der Bille beginnt mit einem handfesten Krieg gegen die renitenten Bergedorfer: Um dem Raubrittertum auf ihren wichtigsten Handelsstraßen ein Ende zu machen, heuerten die Hansestädte Hamburg und Lübeck 1420 ein vermutlich 4000 Soldaten großes Söldnerheer an. Im Juli wurde die Burg Bergedorf, das heutige Schloss, belagert und nach fünf Tagen Beschuss mit schweren Geschützen und erheblichen Verlusten unter den Angreifern eingenommen. Der Aufwand für diesen Feldzug, der auch die Vierlande und Geesthacht an die beiden Hansestädte fallen ließ, gilt Historikern als klares Indiz, welche Bedeutung Bergedorf damals erlangt hatte.

Der teuer erkaufte Sieg zahlte sich aus: Seither waren die Handelsstraßen zumindest vor den Toren der Hansestädte sicher, und Bergedorf bescherte durch seine Zolleinnahmen den neuen Landesherren Hamburg und Lübeck ein gutes Auskommen. Es war zudem der Beginn eines 447 Jahre währenden landesgeschichtlichen Sonderfalls: Nirgendwo sonst teilten sich zwei freie Städte die Verwaltung eines gemeinsamen Landstrichs. Doch die Bergedorfer hatten keine Vorteile davon. Sie waren zwar aus der feudalen Abhängigkeit von den Herzogen Sachsen-Lauenburgs getreten. Doch als Diener zweier Herren blieben sie Bürger zweiter Klasse.

Erst 1868 tritt Bergedorf aus dem Schatten der Geschichte. Das mittlerweile verarmte Lübeck verkauft seine Hälfte Bergedorfs an Hamburg, was die Stadt Bergedorf aufblühen lässt. Neben Gewerbefreiheit, Zollanschluss und anderen Meilensteinen des wirtschaftlichen Fortschritts macht Hamburg sein Bergedorf jetzt wirklich frei: Obwohl schon seit 1275 zur Stadt erhoben, erhält es erst jetzt, als eigenständige Stadt im Staat Hamburg, so weitreichende Kompetenzen, dass die Bergedorfer ihre Entwicklung selbst bestimmen können.

Eine Chance, die sie sich nicht entgehen lassen. Die Zeit der Industrialisierung, die Norddeutschland seit den 1870er-Jahren erfasste, bescherte Bergedorf einen rasanten Aufstieg. Bis zum Ersten Weltkrieg wuchs die Bevölkerung um 500 Prozent. Vor allem Glas-, Rattan- und Eisenindustrie siedelten sich an, über das Wasser der Elbe und ihrer Nebenarme sowie die Eisenbahn bestens an den Hamburger Hafen und die Absatzgebiete in ganz Deutschland angebunden. Ihre Flächen und Gebäude, zu einem Großteil entlang des Schleusengrabens zu finden, sind heute ein Trumpf der citynahen Stadtentwicklung Bergedorfs.

Die 70 Jahre von 1868 bis zum Ende der Bergedorfer Eigenständigkeit 1938 haben die entscheidende Entwicklung markiert von der ländlichen Kleinstadt mit kaum mehr als 3000 Einwohnern zum Zentrum der Region östliches Hamburg. In dieser Zeit entstanden unter anderem moderne Verkehrsachsen, umfangreicher Wohnungsbau, schließlich verfügte Bergedorf sogar über einen eigenen Stadtbaudirektor. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, Wohnraum für alle Bevölkerungsschichten zu schaffen.

So entstand um 1900 das bis heute erhaltene Angestellten- und Handwerksmeister-Viertel Bergedorf-Süd gleich neben der City. Und kurz darauf, angelehnt an Hamburgs Backsteinarchitektur, aber im besonderen Bergedorfer Stil, das städtisch geförderte Bauprojekt auf dem Gojenberg. Ebenfalls direkt neben der City liegt Bergedorfs Gartenstadt: Das in den 1920er-Jahren gebaute Nettelnburg zeigt sich bis heute als eine Art großes Dorf mitten in der Stadt – wenn auch die einst großen Gemüsegärten mittlerweile durch Hinterlieger-Bebauung vielfach geteilt sind.

Eine Besonderheit Bergedorfs ist der heute mit knapp 39.000 Bewohnern größte Stadtteil Lohbrügge. Erst mit dem Groß-Hamburg-Gesetz 1938 vom Herzogtum Holstein zur Hansestadt und damit zum Bezirk gekommen, ist es Ort des größten Bauprojekts der 60er-Jahre in Deutschland: In Lohbrügge-Nord wurde damals in einem Mix aus bis zu 15 Stockwerke hohem Geschosswohnungsbau, Reihen- und Einzelhäusern innerhalb von nur neun Jahren Platz für mehr als 10.000 Neubürger in 6000 Haushalten geschaffen. Dazwischen: umfangreiche Grünanlagen, kleine Einkaufszentren, Schulen und Kindergärten. So wuchsen der alte Lohbrügger Ortskern und das fünf Kilometer westlich gelegene Boberg städtebaulich zusammen.

Neubaugebiete blieben auch in den folgenden Jahrzehnten das große Thema im Bezirk Bergedorf. So entstand in den 80er-Jahren auf der grünen Wiese zunächst das von Fleeten durchzogene Neuallermöhe-Ost und ein Jahrzehnt später der stadtplanerisch noch durchmischter westliche Teil – einschließlich eigener S-Bahn-Station. Beide zusammen haben heute knapp 24.000 Einwohner. 2011 wurden sie zu Hamburgs jüngstem Stadtteil erklärt.

Der größte Teil des Bezirks Bergedorfs ist allerdings gar nicht städtisch: Der ganze Süden, umschlossen von der Elbe und durchzogen von ihren Nebenarmen Dove Elbe und Gose Elbe samt gemütlichen Deichstraßen, ist ländlich geprägt. Die Vier- und Marschlande, Hamburgs Blumen- und Gemüseanbaugebiet, machen mehr als 70 Prozent der Fläche Bergedorfs aus, haben mit knapp 25.000 Einwohnern aber nur ein Fünftel seiner Bevölkerung. Hier liegen unter anderem mit den Kirchwerder Wiesen, der Reit und den Borghorster Elbwiesen auch viele Naturschutzgebiete. Einen gewissen Sonderstatus unter ihnen genießt die Boberger Niederung. Direkt an den städtischen Bereich Bergedorfs und das benachbarte Mümmelmannsberg grenzend, wird es auch als Naherholungsgebiet stark genutzt.

Aktuell sind neben dem Wohnungsbau, der pro Jahr rund 1000 neue Bürger nach Bergedorf zieht, vor allem die erneuerbaren Energien Thema im Bezirk. Während das gerade entstehende Windkraft-Forschungszentrum Energie-Campus der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) breite Zustimmung findet, lehnen zahlreiche Bürger den Bau von 150 bis 180 Meter hohen Windkraftanlagen in den Vier- und Marschlanden ab. Ein Bürgerentscheid zeigte mit einer Ablehnung von rund 67 Prozent im vergangenen Sommer ein klares Meinungsbild – auch wenn sich nur knapp 30 Prozent der Bergedorfer beteiligten. Doch die Hamburgische Bürgerschaft blieb von dem für sie nicht bindenden Votum unbeeindruckt und schuf das Planrecht für die vier vorgesehenen Windparks trotzdem.

Derweil laufen die im Februar begonnenen Arbeiten am 7,5 Millionen Euro teuren Energie-Campus in der Schleusengraben-Region auf Hochtouren. Hier wird ab 2015 an allen Details der Windkraft geforscht, bis hin zur Speichertechnologie. „Ein wichtiger Schritt, um Bergedorf als Hightech-Standort mit gut bezahlten Arbeitsplätzen zu etablieren“, sagt Bezirksamtsleiter Arne Dornquast. „Neben dem bereits angesiedelten Laser Zentrum Nord kann sich durch die Windkraft- und Speicherforschung ein ganzer Innovationspark in der südlichen Schleusengraben-Region entwickeln. Auch Siemens und Fraunhofer-Institut sind schon vor Ort.“

Dass gleich nebenan die besonders geschützte zierliche Tellerschnecke Bergedorfs Gewerbeentwicklung schon seit zwei Jahren lähmt, kommt dem Stadtplanungsexperten Dornquast dabei nicht gerade ungelegen. Schließlich könnten die Schnecken die von Wirtschaftssenator Frank Horch favorisierte Umwidmung ihrer Heimat zum Logistikpark noch ausbremsen: Bergedorf hätte auch dort lieber Platz für Forschung und Innovation.

Beim Wohnungsbau hat sich der Bezirk im Vertrag für Hamburg zur Genehmigung von 600 Wohnungen pro Jahr verpflichtet. „Absehbar liegen wir in den kommenden Jahren sogar darüber“, sagt Baudezernent Uwe Czaplenski, der dabei vor allem „Nachverdichtungen“ im städtischen Bereich Bergedorfs im Augen hat, also das Schließen von Baulücken.

„Wir haben Entwicklungsmöglichkeiten ohne neue Großsiedlungen auf der grünen Wiese“, betont Arne Dornquast mit Blick auf umgangreiche Projekte im Zentrum. So soll neben der Schleusengraben-Region mit ihrem Mix aus Gewerbe, Forschung und mehreren Tausend Wohnungen unter anderem im Stuhlrohrquartier und auf dem Gelände des heutigen Lichtwarkhauses gebaut werden. Ebenfalls in den Startlöchern steht das „Bergedorf Tor“ auf dem heutigen Gelände der Hauptpost. Und für das Areal des alten Glunz-Kaufhauses am Mohnhof ist gerade der Architekten-Wettbewerb abgeschlossen worden. Hier werden 85 Wohnungen mitten in der Stadt bis zum Herbst 2016 bezugsfertig sein.

Nebenan hat die Bergedorfer City ihre Probleme als Einkaufsstadt endgültig hinter sich gelassen. Seit fast vier Jahren laufen die Geschäfte wieder rund, weil an beiden Seiten der Bummelmeile Sachsentor mit dem erweiterten Einkaufszentrum CCB und dem als „Neuer Mohnhof“ wieder belebten ehemaligen Penndorf-Kaufhaus neue Magneten entstanden sind.

Bergedorfer Sorgenkind bleibt bis auf Weiteres die Verkehrsentwicklung. Hoffnungen auf eine Ostumgehung, die die Bundesstraße 207 direkt an die Autobahn 25 anschließen würde, zerschlagen sich seit Jahren immer wieder an der Untätigkeit der schleswig-holsteinischen Nachbarn.

Arne Dornquast sieht das Thema anders gelagert: „Die eigentliche Herausforderung ist, viele Autofahrer für den öffentlichen Personennahverkehr zu gewinnen. Für die S-Bahnen wird ein Zwei-Minuten-Takt angestrebt. Die Kapazitäten auf der Schiene sind noch längst nicht ausgereizt“, sagte der Bezirksamtsleiter, der die stark genutzten S2 und S21 zwischen dem Hauptbahnhof und Bergedorf und weiter Richtung Reinbek/Aumühle ausbauen will.