Bauverzögerung der Elbphilharmonie kostet Hamburg immer mehr Geld und Nerven. Aber sie bietet auch Chancen, Klasse zu entwickeln.

Vielleicht ist es nur ein unscheinbarer kleiner Knopf, er muss noch nicht mal signalrot sein. Irgendwo in der unüberschaubaren Masse der Elbphilharmonie-Baupläne findet man ihn womöglich. Am praktischsten wäre er auf dem Schreibtisch des Generalintendanten, beim Präses der Kulturbehörde oder aber gleich beim Bürgermeister.

Viele Hamburger Politiker müssen in den vergangenen Jahren unbeirrbar an diesen Elbphilharmonie-Knopf geglaubt haben, der alles von jetzt auf gleich gut werden lässt. Einmal nur beherzt betätigen, und, o Wunder, es ist massenhaft auf einen Schlag da und will auch sofort hinein: das ideale Publikum, die Zielgruppen, die Stammkundschaft. Die Abonnenten. Die Rettung.

Zuhörer, die wissen, was sie wollen für ihr Geld. Zuhörer, die genauso wissen, was sie nicht wollen. Ein geschmacklich gut erzogenes, gebildetes, anspruchsvolles, dankbares, zahlungskräftiges Publikum. Jüngere und Ältere, aus vielen sozialen Schichten, aus allen Stadtteilen, von nah und fern. Kulturaffine, die mühelos frühen Schönberg von spätem Beethoven unterscheiden können und beides mögen. Die sich von Renaissance-Madrigalen ebenso begeistern lassen wie von konzertanten Wagner-Opern, von horizonterweiternder Weltmusik für Streichquartette oder verschrobenen Singer-Songwriter-Talenten. Musikfreunde, die gute Orchester - und das unabhängig vom Kartenpreis - von Ramsch unterscheiden können. Ein Traum wäre das. Gäbe es diesen Knopf, er wäre (im Gegensatz zum Bau des Konzerthauses) unbezahlbar. Die Kosten für die Stadt, egal wie weit unter- oder oberhalb einer halben Milliarde Euro, wären auf lange Sicht ein Schnäppchen dagegen.

Das fatale Problem: Es gibt diesen Knopf nicht.

Jeder Nachteil habe einen Vorteil, sagt der Volksmund. Und selbst bei der von vielen als Millionengrab verfluchten Krisen-Großbaustelle Elbphilharmonie hätte er damit recht. Denn, so sarkastisch das angesichts der Hiobsbotschaften über das peinliche juristische Armdrücken der Stadt mit dem Baukonzern Hochtief auch klingt: Etwas Besseres als die immer neuen Verschiebungen des Eröffnungstermins kann der selbst ernannten Musikstadt Hamburg überhaupt nicht passieren. So gewinnt sie Zeit, um dem ersehnten Spitzenplatz in der Klassik-Welt entgegenzuwachsen. Dummerweise ist aber auch dieser Lichtblick im sehr, sehr langen Tunnel nicht umsonst zu haben.

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Hamburg hat nach wie vor zwei gravierende Probleme, die bombenfest miteinander verbunden sind: Noch fehlt genügend Publikum, um Laeiszhalle und die große Elbphilharmonie zu bespielen. Und es fehlen genügend gute Angebote, um das Publikum in dieser Größenordnung zu erziehen und anzuziehen.

Je mehr Zeit noch vergeht, bis das erste Konzert im Großen Saal der Elbphilharmonie beginnt, desto unproblematischer sind etliche der Spielzeiten danach. In den ersten Jahren könnte das Programm dort aus drittelprofessionellen Kammbläsern bestehen; das Haus wäre dennoch ausverkauft, weil es toll und neu ist. Bloß weil es endlich da ist. Schlimmstenfalls säßen dort kulturell desinteressierte Tagestouristen, die ein einziges Mal besichtigen wollen, wie es im Inneren des Fotomotivs wohl aussieht. Was sie dort hören und von wem, wäre ihnen völlig egal. Sydneys Oper, einem weltweit bekannten Wahrzeichen, geht es seit Jahrzehnten sehr gut so - außen hui, innen pfui. Niemanden interessiert mehr, wie viel mehr sie gekostet hat oder wie viel länger als geplant der Bau gedauert hat.

So weit die zumindest teilweise tröstliche Theorie für Hamburg. Die Praxis sieht dennoch sehr anders aus.

Denn ist es wirklich so einfach, Weltniveau nach dem Motto "Kommt Zeit, kommt Kundschaft" anzupeilen? Natürlich nicht. Der schönste Zeitgewinn durch das schier endlose Baustellen-Elend nützt nichts, weil er ja nicht konsequent genutzt wird.

Generalintendant Christoph Lieben-Seutter, engagiert bis 2015 (das derzeit befürchtete Elbphilharmonie-Eröffnungsjahr), hat sich auf einen entkräftenden Marathon eingelassen, bei dem er fast nur noch verlieren kann. Der Konzerthaus-Manager ohne Spielbetrieb im Traumhaus hat schon viel zu oft à la Obama "Yes, we can!" versprochen. Mittlerweile ist ein resigniertes "Maybe we would ..." daraus geworden. Ikarus' Flügel wurden auf Normalmaß gestutzt. Er ist für viele längst nur noch Teil des Problems, nicht mehr Teil der Lösung. Er tue sich den Posten weiter an, sagte Lieben-Seutter kürzlich, es könne womöglich auch 2022 werden mit der Eröffnung, hieß es außerdem. Was, weil von einem Wiener kommend, wohl vor allem Ironie sein sollte. Aber die versteht nicht jeder. Aus missionarischer Euphorie ist Notwehr geworden? Das wäre ein unhaltbarer Zustand.

Lieben-Seutters ärgstes Problem: Von nichts kommt niemand, und für wenig mehr als das schon Vorhandene werden nur wenig mehr als bislang kommen. Sein Prestige-Konzerthaus am Elbufer ist noch sehr eingebildet, seine Probleme mit dem elbphilharmonischen Vorglühen am Brahms-Platz sind schon äußerst real.

Es braucht im Markt der Klassik-Konzerte Jahre, um mit raffiniertem und sehr kostspieligem Marketing neue Angebote zu etablieren und neue Zielgruppen zu erobern. Es kostet Zeit und es kostet Nerven. Der Kunde, der noch gar nichts von seinem zukünftigen Konzertsaal-Glück weiß, will virtuos verführt werden und nicht plump überrumpelt. Nicht überfordert, nicht unterfordert. Ein enorm schwieriger Balanceakt. Die ganz Jungen wird man eh noch nicht bekommen, die Alten sind auch kein Problem. Das heutige Mittelalter - kaufkräftig, familiär und beruflich etabliert, aber durch viele mögliche Freizeitaktivitäten abgelenkt - ist als Noch-nicht-Kartenkäufer oder Abonnent eine enorme Herausforderung.

Hamburg, die Stadt von Brahms und Telemann, Mendelssohn und Mahler, ist da ein einzigartig heikles Pflaster. Jahrzehntelang herrschte traditionsorientierter Stillstand auf bescheidenem Niveau. Der solide bespielte Klassik-Markt war klar aufgeteilt, die Claims von städtischen und privaten Anbietern waren deutlichst abgesteckt. Wer diese Spielregeln nicht einhalten wollte, musste Nackenschläge befürchten.

Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, schon damals weltweit eines der spannendsten und vielseitigsten Orchester seiner Art, gastierte vor mehr als einem Jahrzehnt mit einer eigenen Konzertreihe in der Laeiszhalle und ging damit ein wie die Primeln. Doch das lag beileibe nicht am diffizilen Verhältnis der Städte. Das Ensemble war für Hamburg zu gut, zu speziell.

In der letzten Saison holte Lieben-Seutter die Nachbar-Hanseaten mehrfach nach Hamburg, in der nun beginnenden sind sie gleich wieder auf dem Plan seiner Konzerte. Das ist schön und hörenswert. Aber inzwischen als zukunftsweisende Programmidee als Vorbereitung auf einen der besten Konzertsäle der Welt schon wieder viel zu harmlos. Die Konkurrenz entwirft längst ganz andere Konzepte.

Alle großen Konzerthäuser, alle wichtigen Orchesterintendanten planen auf Jahre im Voraus. Lieben-Seutters Job seit Jahren: erst planen, dann wieder verwerfen. Sie alle wollen die großen Namen, was oft nur eine Frage der finanziellen Gegebenheiten ist. Interessant wird das Buhlen um die großen Stars erst, wenn man die weltweit umworbenen Kassenfüller mit maßgeschneiderten Projekten kobern kann. Mit risikofrohen, anspruchsvollen Unikaten. Einen Tournee-Termin nach dem anderen anzuzapfen, das ist oft keine Kunst mehr. Sondern nur leicht gemachtes Geldverdienen.

Erschwert wird die Angelegenheit, weil mit rasanten Zuwächsen bei der Publikumsgewinnung nicht zu rechnen ist. Das Konzerthaus Dortmund, das der ehemalige Laeiszhallen-Chef Benedikt Stampa seit 2005 leitet, hat bei einer Kundenanalyse eine Marktdurchdringung festgestellt, die seit Gründung des Hauses vor zehn Jahren auf sechs Prozent der Bevölkerung des Einzugsgebiets (etwa 3,5 Millionen Menschen) gestiegen ist. Pamela Rosenberg, die frühere Intendantin der Berliner Philharmoniker, soll deren lokale Marktdurchdringung vor einigen Jahren mit einem Prozent angegeben haben. Kein Wunder, dass deren neuer Chef Martin Hoffmann so sehr auf die Internet-Vermarktungsidee der "Digital Concert Hall" setzt, um weltweit Kunden an sich zu binden.

Als Markus Hinterhäuser, der diesjährige Intendant der Salzburger Festspiele, vor 18 Jahren Ingo Metzmacher einlud, um in der Mozartstadt Nonos "Prometeo", ein Meisterwerk des 20. Jahrhunderts, aufführen zu lassen, war das ein Wagnis. Als es 2011 wiederholt wurde, war es ein ganz anders bejubeltes Ereignis, das in der Mitte des verwöhnten Festspielpublikums angekommen ist. Die Musik ist jetzt genauso komplex wie damals, doch die Erkenntnis, dass es sich lohnt, Trampelpfade zu verlassen, hat sich durchgesetzt.

Aber die klassische Hamburger Kultur-Krankheit ist auch beim Thema "neue Angebote" nur sehr schwer zu kurieren. Hier begibt man sich gern, vor Motivation fast umfallend, in den Startblock, läuft die ersten Meter eifrig in Richtung Spitzenplatz - um frustriert aufzugeben, weil das hehre Ziel leider doch noch arg weit weg ist.

Das war beim ehrgeizigen Musikfest des damaligen Generalmusikdirektors Ingo Metzmacher so, das vorschnell beerdigt wurde, und zuletzt, besonders kleinlaut kollabiert, bei der spartenübergreifenden Triennale, die trotz vollmundiger Ankündigungen nie über ein Nice-to-have-Stadium hinauskam. Außer Thesen ist nichts gewesen damals. Geschichte wiederholt sich nicht? Schön wär's ja.

Bei der letzten der vielen turbulenten Elbphilharmonie-Debatten in der Bürgerschaft forderte die oppositionelle CDU, in deren Regierungszeiten die fatalen, teuren Weichenstellungen vorgenommen worden waren, der SPD-Bürgermeister Olaf Scholz müsse die Elbphilharmonie zur Chefsache machen.

Am 14. September wird sie zumindest ein Gesprächsthema von ihm sein, beim ersten Gipfeltreffen der Elbphilharmonie-Beschädigten. Neben Scholz werden auch Lieben-Seutter und der neue NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock als Teil der kulturpolitischen Selbsthilfegruppe im KörberForum sitzen. Sie sollten sich dann gegenseitig fragen, ob schon jemand den magischen Publikums-Knopf bei sich gefunden hat. Die Zeit läuft.